Danev, Stojan Petrov, bulgarischer Wissenschaftler und Politiker, * Šumen 7.02.1858, † Sofia 29.07.1949.
Leben
D. verbrachte seine ersten Schuljahre in Šumen. In Prag besuchte er das Gymnasium (bis 1878). Danach studierte er Jura an den Universitäten in Zürich, Leipzig, Erlangen und Heidelberg, wo er zum Dr. jur. promovierte (1881). Anschließend studierte er noch in London und an der ÉcoleLibre des Sciences Politiques in Paris Staatswissenschaften (bis 1883). Nach Bulgarien zurückgekehrt, schloß sich D.als Advokat und Journalist der Gruppierung um Dragan Cankov innerhalb der „Liberalen Partei“ an. Eine Zeitlang redigierte er das cankovistische Organ „Sredec“ (1884-1886 erschienen) und arbeitete an der Zeitung „Svetlina“ mit (1882-1886 und 1896-1897 erschienen). Im Dezember 1899 wurde D. Führer der „Progressivliberalen Partei“, die - im November 1899 gegründet - den cankovistischen Flügel der „Liberalen Partei“ fortführte, der sich 1894 bei der Auseinandersetzung mit der Karavelov-Fraktion von den Liberalen abgespalten hatte. Organ der „Progressivliberalen Partei“ wurde die Zeitung „Bŭlgarija“, die von 1898 bis 1921 erschien und die russophilen Anschauungen D.s propagierte: Durch enge Anlehnung Bulgariens an Rußland hoffte D. Mazedonien (und Thrazien) und damit die bulgarische Vorherrschaft auf dem Balkan zu gewinnen. Der serbisch-bulgarische Streit um Mazedonien sollte nach der Devise „Serbien nach Westen, Bulgarien nach Süden!“ („Sŭrbija kŭm zapad, Bŭlgarija kŭm jug!“) ausgeräumt werden. Ein bulgarisch-serbischer Bund sollte den Kern einer Balkanföderation bilden.
In der prorussischen Koalitionsregierung Karavelovs (Februar bis Dezember 1901) wurde D. Außenminister und nach dem Rücktritt Karavelovs Ministerpräsident (Dezember 1901 bis Mai 1903). In der Frage der Budgetdeckung hatte D. mehr Erfolg als sein Vorgänger: Mit russischer Vermittlung erhielt er in Paris eine Anleihe, ohne den Franzosen das Tabakmonopol einräumen zu müssen. Seine Außenpolitik erregte jedoch große Unzufriedenheit. Statt des erhofften Bündnisses mit Rußland als Rückendeckung für Bulgariens Mazedonienansprüche konnte er nur eine Militärkonvention abschließen (Mai 1902). Vergeblich verlangte er Reformen für Mazedonien. Vielmehr mußte er auf Druck der Großmächte die Komitees der IMRO auflösen (1903). Um eine Verständigung mit Serbien bemüht, stimmte er - wohl auch unter russischem Druck - der Ernennung eines serbischen Metropoliten neben einem bulgarischen in Skopje zu. Der wachsende Widerstand gegen seine Mazedonienpolitik zwang D. schließlich zum Rücktritt.
Als im März 1911 Zar Ferdinand, der eine Annäherung an die Dreier-Entente anstrebte, Nationale (Narodnjaken) und Progressivliberale (Cankovisten) mit der Regierungsbildung beauftragte, wurde Ivan Gešov Ministerpräsident und D. Präsident der Nationalversammlung. In dieser Funktion wurde D. von Zar Ferdinand mit wichtigen Missionen betraut. So vertrat er Bulgarien bei den Friedensverhandlungen in Paris und London (Dezember 1912 bis Mai 1913), die den ersten Balkankrieg beendeten. Als sich im Streit um die Beute aus dem ersten Balkankrieg ein schwerer Konflikt zwischen den einstigen Verbündeten anbahnte, bemühte sich D., der nach dem Rücktritt Gešovs Ministerpräsident geworden war (14.06.1913), um einen baldigen Schiedsspruch des russischen Zaren. Am 30. Juni 1913 sollte D. auf einmütigen Kabinettsbeschluß hin nach St. Petersburg abreisen. Doch in der Nacht des 29./30. Juni 1913 gab General Michail Savov, der die Reise D.s mißbilligte, offenbar mit Zustimmung Zar Ferdinands, den Befehl zum Angriff gegen serbische und griechische Truppen in Mazedonien. Das Kabinett vernahm den Angriffsbefehl mit Bestürzung, und D. versuchte, die Kriegshandlungen zu stoppen (Befehl zur Einstellung der Kämpfe, Ersetzung General Savovs durch Radko Dimitriev). Die Entwicklung ging jedoch über D. hinweg: Nacheinander erklärten Serbien, Griechenland und Rumänien den Bulgaren den Krieg. Als auch D.s Hoffnung auf russische Unterstützung enttäuscht wurde, trat er angesichts der katastrophalen Lage zurück (17.07.1913).
Während des Ersten Weltkrieges war D. ein entschiedener Gegner des Bündnisses Bulgariens mit den Mittelmächten. Auf dem denkwürdigen Empfang der Oppositionsführer bei Zar Ferdinand am 17. September 1915 verweigerte er ebenso wie Gešov und Stambolijski sein Einverständnis zum Kriegseintritt Bulgariens. Nach dem Zusammenbruch des Landes übernahm D. als Führer der Progressivliberalen in den Koalitionsregierungen Teodor Teodorovs (1918/1919) das Finanzministerium und zeitweise auch das Kriegs- und Außenministerium. Auch in der Koalitionsregierung Stambolijskis war er als Finanzminister vertreten (bis zur Bildung einer reinen Agrarier-Regierung am 1. Mai 1920). Die ausgeschiedenen Koalitionspartner Stambolijskis - Progressivliberale und Nationale (Narodnjaken) - fusionierten im November 1920 zur „Vereinigten Nationalprogressiven Partei“, die sich dann dem oppositionellen „Konstitutionsblock“ anschloß. Dem Anschlag der Orange-Garde auf die Oppositionspolitiker (in der Nacht zum 17.09.1922 bei Dolni-Dŭbnik), die sich auf der Fahrt zum ersten Kongreß des „Konstitutionsblocks“ in Tŭrnovo befanden, fiel auch D. zum Opfer. Das am 19. November 1922 abgehaltene Referendum über die Aburteilung der Kabinette Gešov, D. und Malinov wurde für Stambolijski nach Anwendung entsprechender Druckmittel zu einem überwältigenden Erfolg. Der geplante Prozeß fand zwar nicht statt, doch blieben die Delinquenten bis zum Sturz Stambolijskis (09.06.1923) in Haft und wurden erst durch das Amnestiegesetz (Anfang 1924) außer Verfolgung gesetzt. Nach dem Putsch vom 9. Juni trat D. der „Demokratischen Eintracht“ bei und erhielt wieder einen Sitz in der Nationalversammlung. Gelegentlich trat er mit Reden vor dem Parlament in Erscheinung, in denen er sich für eine Verständigung mit Jugoslawien einsetzte (1924 und 1927). Auch dem Verhältnis Bulgariens zu Rußland maß D. weiterhin große Bedeutung zu, bedauerte aber, „daß wegen des Bolschewismus und seiner für Bulgarien drohenden Gefahren Bulgarien zur Zeit gar keinen Rückhalt an Rußland habe“. - 1929 übernahm D. mit der Leitung der bulgarischen Delegation bei den Verhandlungen mit der Disconto-Gesellschaft in Berlin (Januar und April/Mai 1929) noch einmal eine bedeutende offizielle Mission.
Neben seiner politischen Tätigkeit wirkte D. an der Universität Sofia als Professor für Völkerrecht und Internationales Privatrecht (1894-1898 und 1916-1934). Außerdem hatte er zahlreiche Ehrenämter inne: Mitglied des Haager Schiedsgerichtshofes, Leiter des bulgarischen Roten Kreuzes (seit dem Tode Gešovs 1924), Vorsitzender des bulgarisch-tschechischen Vereins (1918) u. a.
Literatur
Sakŭzov, Janko: Bŭlgarite v svojata istorija. Sofija 1918.
Desbons, Georges: La Bulgarie après le Traité de Neuilly. Paris 1930.
Vlajkov, T. G.: Političeski život u nas. Statii i beležki (Werke Bd 5). Sofija 1930.
Almanach na Sofijskija Universitet 1888-1939. Sofija 1940, 147- 148.
Muir, Nadejda: Dimitri Stancioff. Patriot and Cosmopolitan 1864-1940. London 1957.
Thaden, Edward C.: Russia and the Balkan Alliance of 1912. Pennsylvania 1965.
Statelova, Elena: Za bŭlgaro-srŭbskite otnošenija v perioda 1909-1911 g. In: Ist. Pregled 25 (1969) 5, 20-38.
Diess.: Njakoi charakterni čerti na bŭlgarskija buržoazen partien pečat v navečerieto na Balkanskite vojni (1909-1912 g.). In: Izv. Inst. bŭlg. Ist. 21 (1970) 173-202.