Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Temo, Ibrahim
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Temo, Ibrahim

Temo, Ibrahim, albanischer Arzt und Politiker, Begründer des jungtürkischen Komitees für „Einheit und Fortschritt“, * Struga März 1865, † Constanţa 5.08.1945.

Leben

T.s Vater Murad, Sohn von Mustafa, stammte aus Mati in Albanien. T. besuchte die Volksschule und die Unterstufe des Gymnasiums in Struga, danach ging er nach Istanbul, wo es ihm mit Unterstützung einflußreicher Albaner gelang, in das Medizinische Progymnasium (tip idadiyesi) aufgenommen zu werden. 1885/86 wechselte er in das Höhere Militärärztliche Gymnasium (askerî idadiye-i tibbiye) über. Dort begann er sich für Politik zu interessieren. Nach Beendigung des Gymnasiums schrieb sich T. 1888/89 in die Militärärztliche Fakultät ein (mekteb-i tibbiye-i askeriye), eine moderne, nach europäischen Vorbildern ausgerichtete Schule. Sein Interesse an modernen politischen Ideen steigerte sich hier noch, und er las eifrig vor allem einschlägige französische Werke. Nach Angabe von Jani Vreto begann sich T. bereits damals an der Arbeit albanischer Gruppen in Istanbul zu beteiligen. An der Fakultät fand er eine Gruppe von Gleichgesinnten vor, von denen einige, wie Ishak Sükâtî und Dr. Abdullah Cevdet seine engsten Freunde und Mitarbeiter bleiben sollten. An einem Mai-Tag des Jahres 1889 bildeten vier Studenten dieser Schule - neben T., von dem die Initiative ausging, Ishak Sükûtî, Mehmed Raşid und Abdullah Cevdet - eine Geheimgesellschaft zum Kampf gegen den Absolutismus und für die Wiedereinführung von Recht und Verfassung. Aus den meisten Quellen geht hervor, daß T. diese Gesellschaft nach dem Vorbild der'italienischen Carbonari gründete, während er selbst in seinen Memoiren die „Filiki Eteria“ als Muster hinstellte. Dieser Geheimgesellschaft schlossen sich bald andere Studenten der Fakultät an. Auf Anregung von T. fand zwei Monate nach der Gründung ein Treffen außerhalb der Stadt statt. An diesem Treffen, auf dem man über die Geheimhaltung der Arbeit und die Form der Aufnahme neuer Mitglieder in die Organisation diskutierte, nahmen 12 Personen teil. Auf einer zweiten Versammlung, die im gleichen Jahre abgehalten wurde, wurde beschlossen, voneinander getrennte Zirkel und Gruppen zu bilden. T. gewann die Albaner Ipekli Ibrahim Hoxha, den späteren Abgeordneten von Peć Nexhip Draga und Shahin Kolonja für die Organisation; seinen Angaben zufolge soll auch der Ideologe des türkischen Nationalismus Ziya Gökalp zur Verschwörung gehört haben. Im Sommer gleichen Jahres (1889) begab sich T. nach Struga; er wurde in Ohrid wegen staatsfeindlicher Propaganda verhaftet und unter Bewachung nach Istanbul gebracht. Durch Vermittlung albanischer Freunde wurde er bald wieder aus dem Gefängnis entlassen. 1893 schloß er sein Studium an der Fakultät ab und trat als Augenarzt in das berühmte Militärhospital von Haydarpaşa ein. Noch während seines Studiums hatte er verschiedene medizinische Schriften verfaßt, so ein Buch von ca. 300 Seiten ,,Aile Tabibi“ (Der Hausarzt), „Tagaddi ve devami hayat“ (Ernährung und langes Leben) und „Kudus hastahgi ,daükelb“‘ (Die Tollwut). Die Geheimgesellschaft, die T. gegründet hatte, verbreitete sich sehr rasch, besonders unter den Zöglingen der Militärakademien und den Offizieren in den Vilayets. 1893 und 1895 wurde T. verhaftet, jedesmal nach wenigen Tagen aber wieder freigelassen, weil man ihm eine Verbindung zur Organisation nicht nachweisen konnte. Er wurde als Militärarzt in eine Garnison in Anatolien versetzt. T., der fürchtete, daß man ihn dort umbringen wollte, entschloß sich zur Flucht nach Rumänien. Ende September 1895 gelang es ihm mit Hilfe walachischer Studenten, von denen T. einige in die Organisation aufgenommen hatte, auf einem rumänischen Schiff nach Constanţa zu fliehen, wo er am 1. Oktober 1895 eintraf. Von Constanţa reiste er nach Bukarest, wo ihn der Vorsitzende der albanischen Gesellschaft „Drita“ (Das Licht) Nikolla Naço in der von ihm begründeten albanischen Schule unterbrachte. Mit der moralischen und materiellen Unterstützung Naços konnte T. an einem einjährigen Fachkurs für Ophthalmologie teilnehmen. Nach Ablegung der Prüfung wurde ihm das Diplom zuerkannt, das ihm die Niederlassung als Arzt erlaubte. Die Freundschaft zwischen T. und Naço sollte jahrelang andauern. Von Bukarest reiste T. nach Medgidia (türk. Mecidiye), einer kleinen Stadt nahe Constanţa, bewohnt in der Mehrzahl von Türken und Tataren. Dort wurde er als Gemeindearzt eingestellt. Jetzt erst konnte er sich wieder der politischen Arbeit widmen: er gründete jungtürkische Komitees in rumänischen und bulgarischen Städten, in denen Türken lebten, wie Lom, Tutrakan, Russe, Šumen, Varna, Plovdiv und Pazardžik. Nach Einigen nahm T. Ende 1896 an Zusammenkünften jungtürkischer Führer in Genf und Paris teil, was jedoch nicht zutreffen dürfte. Mit einigen Freunden gründete er in Constanţa eine türkische Zeitung, deren Namen man leider nicht weiß. Die ganze Zeit hindurch unterhielt er über den Albaner Rexhep Laktash aus Ohrid Verbindung zum jungtürkischen Komitee in Istanbul. Im August 1897 traf dann aber die Nachricht ein, daß die ganze Gruppe seiner Freunde in Istanbul verhaftet und nach Libyen interniert worden sei. Im Dezember 1898 begründeten T. und sein Freund Ebiilmükbil Kemal die Zeitung ,,Sada-yi millet“ (Stimme des Volkes). Auf Intervention des türkischen Botschafters in Bukarest mußte das Blatt jedoch bald sein Erscheinen einstellen. Inzwischen war T. mit der Tätigkeit der verschiedenen jungtürkischen Komitees nicht mehr zufrieden. Er schickte Dervish Hima, Tunali Hilmi und Ishak Süküti nach Paris, um mit dem Vorsitzenden des dortigen Komitees Ahmed Riza zu verhandeln. Die Verhandlungen führten zu keinerlei Ergebnis, denn Riza betrieb eine nationalistische Politik, die für die Angehörigen der nichttürkischen Völker unannehmbar war. 1901 reiste T. nach Wien, um sich mit Ishak Süküti und Abdullah Cevdet zu treffen; es sollte dies seine letzte Zusammenkunft mit Süküti sein, der wenig später in San Remo der Tuberkulose erlag. Aus verschiedenen Quellen geht hervor, daß T. im Februar 1902 am jungtürkischen Kongreß in Paris teilnahm; das ist aber zu bezweifeln, denn die Teilnehmer aus Rumänien waren Şeyh Şevki Efendi als Repräsentant der Dobrudscha-Türken, Dervish Hima als Vertreter der Donau-Gebiete und Jashar Erebara als der der albanischen Osmanen von Bukarest. T. hatte lediglich die Vorbereitungen für die Reise getroffen. Bekanntlich endete der Kongreß mit einem Fiasko. T. bemühte sich währenddessen um die Aktivierung der albanischen Nationalbewegung in Rumänien. 1900 trat er in den Vorstand der Gesellschaft „Ndihma“ (Hilfe) ein, 1902 wurde er Mitglied der Gesellschaft „Shpresa“ (Hoffnung) und gleichzeitig auch Stellvertretender Vorsitzender der Sektion von „Bashki-mi“ (Union) in Constanţa. Am Ende des gleichen Jahres schickte er zusammen mit einigen angesehenen Albanern ein Memorandum an den Sultan und an die Großmächte, in dem er die Eröffnung albanischer Schulen und politische und kulturelle Autonomie für die Albaner forderte.
T. war mit den Aktivitäten der jungtürkischen Bewegung so unzufrieden, daß er im Herbst 1902 seinen Arztberuf aufgab und sich zunächst nach Genf und dann nach Paris begab. Dort, im Zentrum der Organisation, kam es sofort zum Zusammenstoß mit Ahmed Riza. T. legte ein Projekt vor, das den Grundschulunterricht für alle nichttürkischen Nationalitäten in der Muttersprache vorsah. Interessant ist, daß T. für die türkische Sprache die Abschaffung des arabischen und die Einführung des lateinischen Alphabetes verlangte, was aber vom Pariser Komitee abgelehnt wurde. Während seines ganzen Aufenthaltes in Paris arbeitete T. an einer Augenklinik. Nach einjährigem Aufenthalt kehrte er nach Constanţa zurück und nahm seine ärztliche Praxis wieder auf. Sofort nach der jungtürkischen Revolution begab sich T. nach Istanbul, wo die Lage noch durchaus verworren war, weshalb er nach Struga fuhr, um seine Familie zu besuchen. Die Bewohner von Struga wählten ihn zu ihrem Vertreter im Parlament, aber das jungtürkische Komitee in Bitola sprach sich gegen seine Wahl aus. Von Struga kehrte T. zusammen mit seiner Familie nach Istanbul zurück, er war jedoch total unzufrieden mit der jungtürkischen Politik, die seinen Idealen widersprach. Er nahm deshalb den politischen Kampf wieder auf. Zusammen mit einigen alten Freunden, zu denen Abdullah Cevdet gehörte, begründete T. am 6. Februar 1909 die „Osmanische Demokratische Partei“ (Osmanii Demokrat Firkasi). Bereits kurze Zeit nach der Gründung hatte die Partei zwei Klubs in Istanbul und 16 in der Provinz, darunter in Bitola und in Skopje. Die Partei publizierte auch einige Zeitungen; in Bitola war ihr Organ „Hukuk-u Ibad“ (Die Rechte des Volkes). Programm und Statuten der Partei waren für die Zeit sehr fortschrittlich; u.a. forderte sie, daß alle Staatsbürger nichttürkischer Nationalität in ihrer Muttersprache unterrichtet werden sollten, was natürlich auch viele Albaner anzog. Noch am Ende gleichen Jahres (1910) mußte die Partei ihre Tätigkeit einstellen, und T. kehrte Anfang 1911 nach Constanţa zurück. Während des Balkankrieges kehrte er an der Spitze einer Mission des Rumänischen Roten Kreuzes nach Istanbul zurück, um den Verwundeten zu helfen. Nach der Rückkehr nach Constanţa begab er sich nach Albanien, wiederum mit einer Mission des Rumänischen Roten Kreuzes. Er traf dort kurz vor dem Prinzen Wied, ein. Die Regierung Turban Paschas ernannte ihn zum Leiter des Gesundheitswesens, wobei sich T. vor allem mit der Bekämpfung der Malaria beschäftigte, die auch Soldaten der holländischen Gendarmerietruppe befallen hatte. Als Prinz Wied Albanien verließ, fuhr T. über Brindisi und Genf nach Constanţa zurück. Sofort nach seiner Rückkehr begründete er in Medgidia eine Druckerei und begann mit der Herausgabe eines Wochenblattes in türkischer Sprache, der Zeitung ,,Işik“ (Licht). Die Hauptprobleme, mit denen sich die neue Zeitung beschäftigte, waren das Schicksal der Türken in Rumänien und auf dem Balkan überhaupt und die albanische Frage. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete T. zunächst im Range eines Hauptmanns der rumänischen Armee in Medgidia und danach in der Moldau, wo er sich um türkische Internierte kümmerte. Nach Kriegsende bestimmte ihn die albanische Kolonie in Rumänien zum Delegierten bei der Pariser Friedenskonferenz. Hier verhandelte er mit Pasic, konnte aber, wie er selbst in seinen Memoiren schreibt, mit ihm zu keiner Einigung kommen, da die Ansichten diametral entgegengesetzt waren. Enttäuscht darüber, daß die albanische Frage nicht zufriedenstellend gelöst worden war, kehrte T. nach Constanţa zurück und trat der „Volkspartei“ General Averescus bei. Den Quellen zufolge wurde er mit großer Mehrheit als Vertreter von Pazardzik in den rumänischen Senat gewählt. Dort setzte er sich für die Rechte der muslimischen Bevölkerung in Rumänien ein. Auf seine Initiative hin wurde in Constanţa eine Höhere Medrese gegründet, in der sowohl Lehrer für türkische Schulen als auch Geistliche ausgebildet wurden. Die Zahl der türkischen Schulen vermehrte sich, und damit gleichzeitig auch die Zahl der türkischen Intellektuellen. T. verfaßte eine Fibel für die türkischen Grundschulen, ein Lehrbuch über rumänische Konversation und ein Lehrbuch über Hygiene, worüber er auch an der Medrese Vorlesungen hielt.
1936-1940 arbeitete T. als Arzt in Medgidia. 1939 veröffentlichte er seine Memoiren unter dem Titel „Ittihad ve Terakki Cemiyetinin te§ekkülü ve hidemat-i vataniye ve inkiläb-i milliye dair Hatiratim“ (Die Bildung der Gesellschaft „Einheit und Fortschritt“ und meine Erinnerung an vaterländische Dienste und die nationale Revolution, Medgidia 1939). Sie stellen eine wichtige Quelle über die Gründung der Gesellschaft für „Einheit und Fortschritt“ dar. 1930-1940 reiste T. mehrmals in die Türkei und verfaßte eine Broschüre unter dem Titel „Atatürkü nigin severim“ (Warum ich Atatürk liebe, Medgidia, Işik Matbaasi, 1937). Es ist sicher, daß er auch noch einige Beiträge in türkischen und 283 albanischen Zeitungen und Zeitschriften der Zeit veröffentlichte; sie aufzufinden dürfte aber sehr schwierig sein. 1940 hörte T. wegen seines vorgerückten Alters und seines schlechten Gesundheitszustandes zu arbeiten auf. Er starb am 5. August 1945 in Constanţa und wurde seinem Wunsch gemäß mit einer albanischen Fahne begraben. Sein Archiv einschließlich der Materialien, die ihm Süküti hinterlassen hat, wurde nach Tirana geschickt und befindet sich heute im dortigen Historischen Institut.

Literatur

Tunaya, T. Z.: Türkiye’de Siyasi Partiler. Istanbul 1952.
Ramsaur, E. E.: The Young Turks. Prelude to the Revolution of 1908. Princeton 1957.
Iancovici, Sava: Relations roumano-albanaises à l’époque de la renaissance et de l’émancipation du peuple albanais. In: Rev. Ét. sud-est europ. 9 (1971) 5-48.
Kaleshi, Hasan: Dr. Ibrahim Temo - der Gründer des jungtürkischen Komitees Einheit und Fortschritt. Ein Beitrag zur Erhellung der Rolle der Albaner in der jungtürkischen Bewegung. In: Südost-Forsch. 35 (1976) 110-149. [Mündliche u. schriftliche Mitteilungen von T.s Sohn Dr. Naim Temo, Constanţa.]

Verfasser

Hasan Kaleshi (GND: 1084144948)

GND: 136367739

Weiterführende Information (Deutsche Biographie): https://www.deutsche-biographie.de/pnd136367739.html


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Empfohlene Zitierweise: Hasan Kaleshi, Temo, Ibrahim, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 282-286 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1754, abgerufen am: (Abrufdatum)

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