Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Vlora, Ismail Qemal Bey
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Vlora, Ismail Qemal Bey

Vlora, Ismail Qemal (Kemal) Bey, türkischer Staatsmann und erster Ministerpräsident der albanischen Regierung nach der Unabhängigkeitserklärung 1912, * Valona (Vlora) 16.01.1844, † Perugia 24.01.1919, Sohn des Mahmud Bey V. und der Hedije Aslan-Pashali.

Leben

V. entstammte der angesehenen Adelsfamilie Vlora. Seinen Großvater Ismail Pascha brachten die Türken 1829 während eines albanischen Aufstandes in Janina um. Als V. drei Jahre alt war, nahm sein Vater an der Antireform-Bewegung teil und wurde in Bitola interniert. Seine Mutter begab sich währenddessen mit den Kindern nach Saloniki (nach einigen Quellen war sie ebenfalls interniert). Nach einigen Jahren wurde Mahmud Bey von der Regierung begnadigt und ihm ein Teil seines Eigentums zurückgegeben, das sowieso nicht sehr groß war, denn V.s Vater war kein Großgrundbesitzer wie Süreya Bey V. Die Grundschule beendete er in Saloniki und setzte dann seine Ausbildung in Valona fort, wo er schon in sehr jungen Jahren die türkische und italienische Sprache beherrschen lernte. In Janina beendete er seine Schulausbildung am berühmten Zosimea-Gymnasium, wo er außer Französisch auch noch Alt- und Neugriechisch lernte. Wie er selbst in seinen Memoiren schreibt, war es dort, wo er sich für England und Griechenland begeisterte; beiden Ländern sollte er sein ganzes Leben lang zugeneigt bleiben. Im Mai 1860 reiste er  nach Istanbul, wo er im Übersetzungsbüro des Außenministeriums eine Stelle bekam. Gleichzeitig begann er mit dem Jura-Studium. 1863 begab er sich wieder nach Janina und übernahm den Posten eines Sekretärs beim Direktor für politische Angelegenheiten des Vilayets. Bald darauf holte ihn sein Onkel Ismail Rahmi Pascha, der Gouverneur Thessaliens war, zu sich und ernannte ihn zum Chef seiner Provinzregierung. 1865 ging er zusammen mit seinem Onkel nach Istanbul, wo er seine alte Stelle im Übersetzungsbüro wieder antrat. 1866 berief ihn Midhat Pascha, der damals Gouverneur des Donau-Vilayets war, nach Ruscuk (Ruse) und ernannte ihn zum Chef der Korrespondenz-Abteilung bei der Vilayetsverwaltung; Sekretär Midhat Paschas war sein Onkel Mustafa Bey V. Aus dieser Zeit stammt seine Freundschaft mit Midhat Pascha, die sein ganzes Leben lang andauern sollte.
Am 3. März 1865 erschien die erste Nummer der Zeitung ,,Tuna“ (Donau) als Presseorgan des Vilayets, die Redaktion hatte V. inne. Zwei Jahre später gab V. eine Zeitschrift kulturell-erzieherischen Charakters heraus, zur einen Hälfte in türkischer, zur anderen in bulgarischer Sprache. Ihr Titel war „Mecrayi Efkär“ (Quelle des Wissens); es erschienen allerdings nur zwei Nummern, die erste im Dezember 1867, die zweite im Januar 1868. In Ruscuk verheiratete sich V. mit einer Griechin (nach Konica mit einer Bulgarin); aus dieser Ehe gingen mehrere Kinder hervor. In der zweiten Jahreshälfte 1867 kehrte Midhat Pascha nach Istanbul zurück, wohin ihm V. bald nachfolgte. Als Midhat Pascha 1869 nach Mesopotamien reiste, um dort den Gouverneursposten zu übernehmen, wurde V. zum Sandschakbey der Süddobrudscha mit Sitz in Tulcea und zum Vorsitzenden der Internationalen Donau-Kommission ernannt. Hier lernte er zahlreiche englische Diplomaten kennen, mit denen er bis zu seinem Lebensende befreundet blieb. Im Herbst 1871, nach dem Tode des Großwesirs Ali Pascha, kehrte V. nach Istanbul zurück. Als dann Midhat Pascha erneut an die Macht kam, ging er wieder in sein Amt in Tulcea zurück. 1873-1876 betrieb er zusammen mit einigen Engländern eine Kompanie zur Ausbeutung von Kupfer und Eisen. Im Juli 1875 fuhr er nach Valona, und von dort nach Neapel, Rom, Paris und London, wo er sich zwei Monate aufhielt und Freunde und Bekannte wie William Ewart Gladstone, Charles George Gordon, Edward Henry Derby (Lord Stanley) u.a. besuchte. In Paris verhandelte V. mit einer Firma über die Ausbeutung der Asphaltvorkommen von Selenica bei Valona. Als Murad V. 1876 den osmanischen Thron bestieg, berief ihn erneut Midhat Pascha zu sich und ernannte ihn zum Generalsekretär des Außenministeriums. Im Rahmen einer allgemeinen Verwaltungsreform plante Midhat Pascha die Schaffung eines großen albanischen Vilayets unter dem Namen, ,Kosovo-Vilayet“, dessen Gouverneur V. werden sollte; der Plan zerschlug sich indes bald. Nach der Entlassung Midhat Paschas und der Aufhebung der Verfassung von 1876 wurde V. in Kütahya interniert. 1884 wurde er zum Sandschakbey von Bolu ernannt, wo er sechs Jahre blieb. Nebenbei beschäftigte er sich mit Handelsangelegenheiten. 1890 kehrte er nach Istanbul zurück, nahm seinen Abschied vom Staatsdienst und konzentrierte sich auf Handelsgeschäfte. Er verhalf englischen Firmen zu verschiedenen Geschäftsabschlüssen. Danach war er für zwei Monate Sandschakbey von Gallipoli und danach Gouverneur (Vali) von Beirut. 1892 war er wieder in Istanbul und erstattete dem Sultan einen detaillierten Bericht über Reformmöglichkeiten im Osmanischen Reich. Dieser Bericht und noch einige andere, die er zu dieser Zeit schrieb, zeigen seine proenglische Haltung und seine Gegnerschaft zur Politik Deutschlands und Österreich-Ungarns. Auch bei den Auseinandersetzungen über die Vergabe von Eisenbahnkonzessionen verteidigte er die englischen Interessen. Zur gleichen Zeit gründete er unter dem alten Titel „Mecrayi Efkär“ eine neue Zeitschrift, in der er hauptsächlich über Probleme der Reform schrieb. In seinen Memoiren behauptet er, daß die Zeitschrift auf Anweisung des Sultans durch die Polizei verboten wurde.
Obwohl zum Mitglied des Staatsrates ernannt, lebte V. in der ständigen Furcht, daß ihn der Sultan als Gefolgsmann Midhat Paschas liquidieren lassen würde, obwohl es dafür keinerlei Beweise gab. Als er zum Vali von Libyen ernannt und nach Tripolis geschickt wurde, floh er daher am 1. Mai 1900 auf einem englischen Schiff nach Athen. Dort blieb er etwa sechs Wochen als Gast der griechischen Regierung und hatte Unterredungen mit dem griechischen Ministerpräsidenten Georgios Theotokis und mit dem griechischen König Georg /· In seinen Memoiren und in zahlreichen Presseveröffentlichungen aus der damaligen Zeit betonte er seine Sympathie für Griechenland. Das, und spätere Aufenthalte in Athen, führte viele Historiker zu der Vermutung, daß er von der griechischen Regierung finanziell unterstützt wurde, denn er hatte keine Einnahmen aus seinen eigenen Besitzungen mehr. Von Athen fuhr V. nach Neapel und dann nach Rom, wo er eine Unterredung mit Francesco Crispi hatte. Zur gleichen Zeit war sein Sohn Tahir Offizier der türkischen Marine und Adjutant des Sultans; die Aktivitäten seines Vaters scheinen ihm also nicht geschadet zu haben. Von Rom fuhr V. nach Brüssel, wo er die Zusammenarbeit mit Faik Konica suchte, der dort die Zeitschrift „Albania“ herausgab; die beiden entzweiten sich jedoch bald wieder. In Brüssel gab V. in verschiedenen Sprachen eine Broschüre heraus, in der er Englands Haltung gegenüber der islamischen Welt lobte. Er begann auch mit der Herausgabe der Zeitung „Le salut d’Albanie“ in albanischer, französischer und griechischer Sprache; der griechische Text wurde in Athen gedruckt. Danach reiste er nach London und nahm 1901 am Begräbnis der Königin Victoria teil, bei welcher Gelegenheit er auch eine Unterredung mit dem griechischen König hatte. Er hielt sich auch noch incognito in Athen auf und reiste nach Ägypten. 1902 nahm er am Kongreß der Jungtürken in Paris teil; später entzweite er sich mit diesen und wurde ihr erbitterter Gegner. Er reiste erneut durch verschiedene europäische Städte und hielt sich auch in Palermo und Piana dei Greci (Piana degli Albanesi) auf. Nach dem Ausbruch der jungtürkischen Revolution reiste er über Athen nach Valona, wurde zum Abgeordneten Berats im jungtürkischen Parlament gewählt und begab sich nach Istanbul, wo er zur Opposition gegen die Jungtürken gehörte. Am 13. April 1909 nahm er an der Revolte teil, die das jungtürkische Regime stürzen wollte und floh nach ihrem Mißerfolg wiederum auf einem englischen Schiff nach Athen. Kurz darauf kehrte er jedoch wieder nach Istanbul zurück und gründete die liberale ,,Ahrar“-Partei, die eine Dezentralisierung und die Selbstverwaltung der verschiedenen Völkerschaften des Osmanischen Reiches durchsetzen wollte. Zur gleichen Zeit trat er im Parlament für die Einführung des lateinischen Alphabets für das Albanische ein. Im Sommer 1911 verließ er Istanbul, reiste nach Europa und danach nach Cetinje, wohin sich die aufständischen Malisoren und ihre Führer geflüchtet hatten. Er war es, der das Memorandum verfaßte, in dem die Malisoren in 12 Punkten ihre Forderungen kundtaten. Dann reiste er nach Nizza und kehrte schließlich nach Istanbul zurück.
Als der erste Balkankrieg ausbrach, begab sich V. nach Bukarest und dann zusammen mit einigen Landsleuten nach Wien, wo er am 9. November 1912 eintraf. Am 12. November hatte er in Budapest Unterredungen mit dem Grafen Berchtold, der seine Pläne billigte und ihm ein Kriegsschiff zur Verfügung stellte, mit dem V. sich am 19. November von Triest aus nach Durazzo begab, da Valona von der griechischen Flotte blockiert war. Am 26. November traf er zusammen mit zahlreichen Freunden und Delegierten aus ganz Albanien in Valona ein, wo er am 28. November die Unabhängigkeit Albaniens verkündete und den Vorsitz in der provisorischen albanischen Regierung übernahm. Obwohl er auf dem Gebiet der Diplomatie und Politik große Erfahrungen hatte, bewies er in der Führung des neuen Staates kein allzu großes Geschick. Die internationale Lage war Albanien auch sehr ungünstig: V.s Macht blieb auf Valona und Umgebung beschränkt. Griechische Truppen bedrohten Valona, in Durazzo und Tirana übte Esad Pascha Toptani die Herrschaft aus, und Skutari stand bald unter internationaler Kontrolle. Im April 1913 begab er sich mit einer Delegation nach Rom, Wien, Paris und London; seine Mission hatte aber keinerlei Erfolg. Als sich im Januar 1914 muslimische Aufständische Valona näherten, übergab V. am 22. Januar 1914 die Macht der Internationalen Kontrollkommission und reiste nach Nizza ab. Nach der Ausweisung Esad Paschas aus Albanien fuhr V. nach Rom, besprach sich mit dem italienischen Außenminister Antonino San Giuliano und reiste dann nach Durazzo, um mit dem Prinzen Wied zu verhandeln. Nach der Rückkehr nach Valona gründete er ein Komitee für öffentliche Wohlfahrt, das seine Tätigkeit aber bald einstellte. Danach ließ er sich mit seiner Familie endgültig in Nizza nieder.
1917/18 diktierte V. seinem alten Freund, dem Engländer Sommerville Story, seine Memoiren, die dieser nach seinem Tode herausgab. Diese Memoiren sind sehr bedeutsam für die Geschichte des Osmanischen Reiches, bringen für die albanische Geschichte aber wenig. Im Februar 1918 wurde V. von den in Amerika lebenden Albanern nach Paris geschickt, um auf der dort tagenden Friedenskonferenz die albanischen Interessen zu vertreten; leider haben wir aber keine Angaben über seine diesbezüglichen Aktivitäten. Er starb in Perugia am 24. Januar 1919. Sein Leichnam wurde in einer Tekke in Kanina bestattet; 1932 wurden seine Gebeine nach Valona überführt, wo sie im dortigen Park ihre letzte Ruhestätte fanden.

Literatur

Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, PA, Albanien XIV, Karton 9 (Ismail Kemal bey 1907-1912), Karton 43 (Ismail Kemal bey 1914-1918).
The Memoirs of Ismail Kemal bey. London 1921 (albanische Übersetzung: Vlora, Ismail Qemal: Kujtimet. Përktheu nga anglishtje Reshad Agaj. Toronto 1968).
Krause, Adalbert Gottfried: Das Problem der albanischen Unabhängigkeit in den Jahren 1908-1914. (Diss.) Wien 1970.
Luarasi, Skënder: Ismail Qemali. Prishtina 1971 (unkritisch und ohne neue Angaben).

Verfasser

Hasan Kaleshi (GND: 1084144948)


GND: 118866729

Weiterführende Informationen: https://prometheus.lmu.de/gnd/118866729

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Empfohlene Zitierweise: Hasan Kaleshi, Vlora, Ismail Qemal Bey, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 430-433 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1854, abgerufen am: (Abrufdatum)

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