Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Velestinlis, Rigas Pheräos
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Velestinlis, Rigas Pheräos

Velestinlis, Rigas Pheräos, griechischer Dichter und Revolutionär, * Velestino (altes Pherä, Thessalien) um 1757, † (hingerichtet) Belgrad 24.06.1798.

Leben

V. Abstammung, seine Kindheit, seine Jugend und selbst sein wirklicher Familienname bleiben bis heute im Dunkeln („Velestinlis“ ist ein von ihm selbst angenommener Zuname, während „Pheräos“ dessen spätere gelehrte Umschreibung darstellt). Er war wahrscheinlich der Sohn eines begüterten Landbesitzers und Gewerbetreibenden. Seine Primär- und Sekundärbildung soll er in Zagora bzw. in Ampelakia in Thessalien bekommen haben. Derselben Überlieferung zufolge soll er anschließend im Dorf Kissos eine kurze Zeit lang als Lehrer gearbeitet haben.
Um 1777 kam V. auf der Suche nach einem besseren Erwerb nach Istanbul, wo er sich zunächst wahrscheinlich als Kaufmann betätigte. Später, nach 1782, war er als Sekretär bei Alexandru Ipsilanti, dem früheren Fürsten der Walachei (1774-1782), tätig. Um 1786 begab er sich nach Bukarest, wo er sich zunächst als Sekretär bei der Familie Brincoveanu betätigte, um dann in die Kanzlei des neuen Fürsten der Walachei Nicolae Mavrogheni (1786-1790) überzuwechseln, der ihn zum „Kaimakam“ (Unterpräfekten) von Craiova, der südwestlichen Provinz der Walachei, ernannt haben soll. Bald erwarb sich V. ein beträchtliches Vermögen an Landbesitz und Vieh (die Anwesenheit seines Bruders Konstantin und seiner Mutter in der Walachei ist seit dieser Zeit ebenfalls belegt). In Bukarest, einem der Zentren der Auslandsgriechen, lernte er einige der geistigen Führer der griechischen Diaspora kennen, von denen Dimitrios Katartzis, der bedeutendste Vertreter der griechischen Frühaufklärung, den größten Einfluß auf ihn ausgeübt hat.
Nach der Besetzung von Bukarest durch die russisch-österreichischen Truppen (Oktober 1788) während des russisch-türkischen Krieges von 1787-1792 trat V. in den Dienst des Austrophilen „Großserdaren“ Christodulos Kirlian (Baron de Langenfeld), den er im Juni 1790 nach Wien, einem der bedeutendsten Zentren wirtschaftlicher, kultureller und politisch-revolutionärer Tätigkeit der griechischen Diaspora vor dem Unabhängigkeitskampf von 1821, begleitete. Während seines kurzen Aufenthaltes in Wien war er vor allem mit der Drucklegung zweier Werke, der „Scholion ton delikaton eraston“ (Schule der feinen Liebhaber) und „Fisikis apanthisma“ (Auslese der Physik), die 1790 in Wien erschienen, und mit der Übersetzung des ,,L’ esprit des lois“ von Charles de Montesquieu, das unveröffentlicht blieb, beschäftigt. Alle drei Werke standen im Geiste der europäischen Aufklärung und waren als ein Beitrag zur kulturellen und politischen Bildung von V.’ Landsleuten konzipiert.
Im Februar 1791 kehrte V. nach Bukarest zurück, wo er sich der Verwaltung seine's Landbesitzes, dem Handel und der übersetzerisch-schriftstellerischen Arbeit widmete. Zu dieser Zeit nahm er auch Kontakt zu französischen Revolutionären auf, die sich in der Walachei aufhielten, namentlich zum französischen Diplomaten Emile Gaudin. Seine kulturellen und aufklärerisch-revolutionären Pläne müssen zur selben Zeit und in derselben Umgebung ihre erste konkrete Gestalt angenommen haben. Zu deren Verwirklichung kam er Anfang August 1796 von neuem nach Wien, wo er sich zunächst der patriotisch-revolutionären Agitation unter den in Wien, in Triest und in anderen Städten West- und Mitteleuropas lebenden griechischen Kaufleuten, Studenten und Intellektuellen zuwandte. Obwohl einige Einweihungsformeln und andere konspirative Zeichen überliefert sind, steht nicht mit Sicherheit fest, daß ihm auch die Gründung eines durchorganisierten Geheimbundes gelungen ist. Ebenso unsicher ist, ob V. mit dem seit 1793 im Aufstand gegen die türkische Zentralgewalt befindlichen Pascha von Vidin Pazvandoglu, dessen antitürkischen Kampf er in seinem 1796 in Umlauf gesetzten „Kriegsgesang“ (Thurios) besungen hatte, in direkter Verbindung stand. Wie dem auch sei, seine rege schriftstellerische und editorische Tätigkeit zu dieser Zeit in Wien gibt auch über seine politischen Pläne Aufschluß. 1797 wurden in der griechischen Druckerei der in V.’ Pläne eingeweihten Gebrüder Georgios und Pulios Puliu unter seiner Aufsicht folgende Werke des V. gedruckt:
1. „Ithikos Tripus“ (Moralischer Dreifuß), eine Sammlung von drei Literaturwerken: dem Drama „Olympia“ von Pietro Antonio Metastasio, der Novelle „Die Schäferin der Alpen“ von Jean François Marmontel und der Prosa-Idylle „Der erste Schiffer“ von Salomon Geßner; die ersten zwei waren von V. selbst, das dritte von seinem Gefährten Antonios Koronios übersetzt und standen alle drei im Geiste der europäischen Aufklärungsliteratur;
2. „Neos Anacharsis“ (Der neue Anacharsis), der 4. Band des seinerzeit berühmten Werkes „Voyage du jeune Anacharsis en Grèce“ von Jean Jacques Barthélemy, von V. als eine Art Griechenlandkunde zur Erweckung eines patriotischen Selbstbewußtseins unter seinen Landsleuten gedacht;
3. Karte Griechenlands, in Großformat (etwa 2 x 2 m), in 12 Blättern; mit vielen Kommentaren des V. und Parallelisierungen von alt- mit neugriechischen Orten und historischen Ereignissen zum selben Zweck;
4. Neue Karte der Walachei (85 X 62 cm);
5. Allgemeine Karte der Moldau (82 X 63 cm); zwei Werke, die V. vermutlich im Auftrag verfertigte;
6. Ein Blatt mit der Abbildung Alexander des Großen und dessen wichtigsten Schlachten (43 x 27 cm); ebenfalls zum Zwecke der Anspornung der Griechen zum Patriotismus;
7. „Stratiotikon Enkolpion“ (Militärisches Handbuch), eine ausgewählte Übersetzung aus einer Militärschrift des österreichischen Feldmarschalls Ludwig Andreas von Khevenhüller, zur militärischen Vorbereitung der Griechen bestimmt;
8. „Epanastatiko Manifesto“ (Revolutionsmanifest), enthaltend außer dem Manifest selbst auch eine Proklamation der Menschenrechte in 35 Artikeln, eine demokratische Verfassung in 124 Artikeln und den obenerwähnten „Thurios“; die politischen Texte („Menschenrechte“ und „Verfassung“) basierten auf den entsprechenden revolutionären Schriften der französischen Nationalversammlung, namentlich auf der französischen Verfassung von 1793, und spiegelten somit am getreuesten die politischen Auffassungen und Zielsetzungen des V. wider. Die revolutionären Lieder, wie der „Thurios“, der „Imnos patriotikos“ (Patriotische Hymne), in der Musik des französischen Revolutionsliedes „La Carmagnole“, und ein verschollenes Lied nach der Musik von Hans Georg Nägeli für das deutsche Lied von Johann Martin Usteri „Freut euch des Lebens“, zur gefühlsmäßigen Propagierung des Aufstandes gedacht, waren in zahlreichen Exemplaren verbreitet und von den Griechen an vielen Orten gesungen.
Den günstigen Augenblick zur Verwirklichung seiner Pläne sah V. im Vormarsch der französischen Revolutionstruppen in Italien unter Napoleon (1796-1797), auf den die Griechen, namentlich nach der Landung französischer Truppen auf Korfu (Juni 1797) und dem Vertrag von Campoformio (17.10. 1797), ihre Hoffnungen auf Befreiung von der türkischen Herrschaft gesetzt hatten. Im Juli 1797 schickte V. einen Brief an seinen in Triest ansässigen Gefährten Antonios Koronios für den französischen Konsul in derselben Stadt, mit dem Auftrag, den Brief an den in Mailand weilenden Napoleon weiterzuleiten. Ohne auf eine Antwort zu warten (der Brief an Napoleon war von Koronios zurückgehalten und später von der österreichischen Polizei bei ihm gefunden worden), schickte V. seine letztgedruckten politischen Schriften in Kisten nach Triest, verließ im Dezember Wien und kam auch selber am 19. Dezember in Triest an, in der Absicht, sich auf das griechische Festland zu verschiffen, um dort den Aufstand gegen die türkische Gewalt vorzubereiten. Er wurde jedoch von der österreichischen Polizei, die inzwischen vom Kompagnon des in Dalmatien abwesenden Koronios, Dimitrios Ikonomu, informiert worden war, gleich nach seiner Ankunft in Triest festgenommen. Am 5. Februar 1798 wurde er nach Wien transferiert, wo er am 14. desselben Monats ankam. Nach seiner Vernehmung und der Aufdeckung seiner Genossen wurde er zusammen mit sieben seiner Gefährten-alle türkische Untertanen-an die türkischen Behörden ausgeliefert (einige verdächtige Griechen, österreichische Staatsangehörige, waren inzwischen aus Österreich ausgewiesen). Am 27. April 1798 verließen die acht Gefangenen in österreichisch-türkischer Begleitung Wien und kamen am 9. Mai d. J. in Belgrad an, wo sie im Burggefängnis von Nebojša eingeschlossen wurden. Dort wurden sie auf Befehl der Hohen Pforte am 24. Juni 1798 durch den Strang hingerichtet.
Trotz des Scheiterns seiner Pläne wird V. mit Recht als der bedeutendste Wegbereiter des griechischen Unabhängigkeitskampfes von 1821 und als einer der wichtigsten Vertreter der neugriechischen Aufklärung angesehen. Dies offenbart sich zunächst im Werk seiner Fortsetzer und Nachfolger, angefangen beim Oberhaupt der neugriechischen Aufklärung Adamantios Korais (Adelfiki didaskalia, [Brüderliche Belehrung], 1798; Asma polemistirion [Kriegsgesang], 1800), über den anonymen Verfasser der ,,Elliniki Nomarchia“ (Griechische Gesetzesherrschaft, 1806) bis hin zum populärsten Freiheitskämpfer Theodoros Kolokotronis; dann in der ungewöhnlichen Verbreitung seiner zum Kampf für die Freiheit aufrufenden Lieder, allen voran des „Thurios“ und der „Patriotischen Hymne“, die, in Verbindung mit seinem gewaltsamen Tod, zu seiner Heroisierung führten, die in zahlreichen Volksliedern und -sagen der Griechen und anderer Balkan Völker ihren Ausdruck gefunden hat. Jedoch geht die Bedeutung seines politischen Werkes über die Voraussetzungen und die Zielsetzungen der griechischen Revolution von 1821 weit hinaus. V. politische Theorie ist als diejenige eines aufgeklärten Radikaldemokraten des 18. Jh.s erkennbar: Schon in seinem „Thurios“ appellierte er an die „Bulgaren, Albanier, Armenier und Griechen, die Schwarzen und die Weißen, sich für die Freiheit mit dem Schwerte zu gürten“. Auch die „Proklamation der Menschenrechte“ und die „Verfassung“ enthalten, gemäß ihren französischen Vorbildern, Artikel, die sich nicht nur auf die Griechen, sondern auf alle Balkanvölker und die anderen unter türkischer Herrschaft lebenden Nationalitäten beziehen. Die Nationalisierung seines Werkes und seiner Gedanken durch die Griechen ging mit der Nationalisierung und der Verwässerung des Kampfes gegen die türkische Gewalt Hand in Hand. Die Verurteilung seines Werkes durch das orthodoxe Patriarchat in Konstantinopel und die Verfälschung der obigen Passagen des „Thurios“ nach 1821 sind nur zwei Zeugnisse von der Umfunktionierung des Werkes von V., die von der völligen Ablehnung zur nationalen Tabuisierung überging. Die kritische Stimme des Adamantios Korais an die Adresse der griechischen Nationalversammlung (1822) und an die Adresse des Ioannis Kapodistrias (1827-1831) kam zu spät und blieb ohne Widerhall.

Literatur

Perrevos, Christoforos: Sintomos viografia tu Riga Fereu. Athen 1971(2).
Legrand, Émile: Anekdota engrafa peri Riga Velestinli ... meta metafraseos ellinikis ipo Spiridonos Lampru. Athen 1891.
Amantos, Konstantinos: Anekdota engrafa peri Riga Velestinli. Athen 1930.
Vranusis, Leandros: Rigas. Athen 1953.
Manesis, Aristotelis J.: L’ activité et les projets politiques ď un patriote grec dans les Balkans vers la fin du XVIIIe siècle. In: Balkan Studies 3 (1962) 75-118.
Daskalakis, Apostolos: Melete peri Riga Velestinli. Athen 1964.
Vranusis, Leandros: Rigas. In: Apanta ton Neoellinon Klassikon. 2 Bde. Athen [1968].
Anagnostu, Vasilios Tr.: Rigas o Velestinlis (Rigas Kiritsis Ikonomas). Thessaloniki 1968.
Pistas, Panajotis (Hrsg.): Rigas. Scholion ton delikaton eraston. Athen 1971.
Kordatos, Janis: O Rigas Fereos ke i valkaniki omospondia. Athen 1974(2).

Verfasser

Georg Veloudis (GND: 124116787)

GND: 119154269

Weiterführende Information (Deutsche Biographie): https://www.deutsche-biographie.de/pnd119154269.html


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Empfohlene Zitierweise: Georg Veloudis, Velestinlis, Rigas Pheräos, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 399-402 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1838, abgerufen am: (Abrufdatum)

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