Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Stambolov, Stefan Nikolov
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Stambolov, Stefan Nikolov

Stambolov (auch Stambulov), Stefan Nikolov, bulgarischer Staatsmann, * Tŭrnovo 31.01.1854, † (ermordet) Sofia 18.07.1895.

Leben

 Schon als halbwüchsiger Schneiderlehrling gründete St. einen revolutionären Verein; und als sein Vater, ein Gastwirt, ihn 1870 auf das geistliche Seminar in Odessa schickte, geriet er dort unter den Einfluß russischer Revolutionäre und wurde statt Priester Nihilist. Vom Seminar ausgeschlossen, ging St. 1873 nach Bukarest und wurde dort schließlich Nachfolger Vasil Levskis als Vorsitzender des „Bulgarischen Revolutionären Zentralkomitees“. In jener Zeit dichtete er zusammen mit Christo Botev revolutionäre Lieder und bereitete eine Erhebung gegen die Türken vor. Nach dem Scheitern der Aufstandsbewegung von 1875/76 mußte St. erneut nach Rumänien emigrieren, wo er sich dem Komitee der „Jungen“ anschloß. Nach der Befreiung Bulgariens 1877/78 nahm St., vom Ergebnis des Berliner Kongresses enttäuscht, seine revolutionäre Tätigkeit wieder auf. Nach dem Scheitern seines mazedonischen Unternehmens kämpfte er in der Konstituierenden Versammlung von Tŭrnovo nun als Politiker für die bulgarische Sache weiter. An der Spitze der liberalen Mehrheit stehend, führte er eine vehemente Opposition gegen die vom Fürsten Alexander von Battenberg ernannte konservative Regierung. Doch unter dem Eindruck des selbstherrlichen Betragens russischer Militärs und Diplomaten wandelte sich der bis dahin russenfreundliche Revolutionär schnell zum russenfeindlichen Fürstenfreund. 1884 zum Präsidenten des Sobranje gewählt, war es St. und nicht der zaudernd liberale Premier Petko Karavelov, der den Fürsten ermunterte, sich an die Spitze der ostrumelischen Bewegung zu stellen, die autonome Provinz mit dem Fürstentum zu vereinigen (September 1885) und diesen Schritt im Krieg gegen Serbien (November 1885) zu verteidigen. Als russophile Offiziere putschten und den Fürsten kurzerhand entführten, erkämpfte ihm St. eine triumphale Rückkehr nach Bulgarien. Doch schließlich dankte Alexander wegen der fortdauernden Gegnerschaft Rußlands am 4. September 1886 ab und ernannte St., Petko Karavelov und Sava Atanasov Mutkurov zu Regenten. Neuen russischen Bevormundungsversuchen trat St. entschlossen entgegen, woraufhin Rußland im November 1886 seine Beziehungen zu Bulgarien abbrach. St. sorgte für die einstimmige Wahl des Prinzen Ferdinand von Sachsen-Coburg-Gotha zum Fürsten von Bulgarien (06.07.1887). Nach seiner Thronbesteigung mußte Prinz Ferdinand die Regierung Bulgariens weitgehend seinem übermächtigen Premier St., der ihn zum Fürsten gemacht hatte, überlassen. Seit dem 1. September 1887 Ministerpräsident, regierte St. das rückständige und politisch ungeschliffene Staatswesen in patriarchalisch-autoritärer Form. Jedoch stütze er sein Regime keineswegs nur auf rohe Gewalt, wenn er auch gegen Opposition, Räuberunwesen und von Rußland geförderte Verschwörungen hart durchgriff, sondern vor allem auf eine Popularität, die er sich durch Verdienste um die bulgarische Sache, Kenntnis der Volksströmungen, bauernschlaues Taktieren und Redemacht erwarb und sicherte. Während der Krise, die 1887/88 durch die Wahl Ferdinands ausgelöst worden war, suchte St. Bulgariens gefährdete Stellung durch Annäherung an Österreich-Ungarn und die Türkei abzusichern. Ein militärischer Konflikt zwischen den Großmächten wurde schließlich von Bismarck verhindert. - Allmählich konsolidierte sich die Lage Bulgariens: Die Anerkennung des Fürsten blieb zwar weiterhin aus, doch fand sich das Ausland mit dem Status quo ab. Die Orientierung St.s zum Dreibund und zu den Ländern des Mittelmeerpaktes bot Bulgarien Schutz gegen Serbien, das sich nach der Abdankung König Milans (1889) an Rußland anlehnte, und gegen Rußland, mit dem Deutschland 1890 den Rückversicherungsvertrag nicht erneuerte. Außerdem entsprach sie dem Lern- und Entwicklungsbedürfnis des Landes: Unter St. erlebte Bulgarien einen kräftigen wirtschaftlichen Aufschwung, der durch Staatsanleihen und Handelsabkommen mit den Industrieländern sowie durch umfangreiche Eisenbahn- und Hafenbauten in Gang gesetzt wurde. In der nationalen Frage Bulgariens („Wiedervereinigung“ mit Mazedonien) entwickelte St. das Konzept, diese nicht, wie er noch 1879 beabsichtigte, durch Revolution zu lösen, sondern durch Verständigung mit der Türkei und friedliche Durchdringung Mazedoniens mit bulgarischen Schulen und Kirchen; mit Hilfe der Türkei sollte Bulgarien die Voraussetzungen schaffen, um dereinst beim Ende des Osmanischen Reiches ihr Erbe auf dem Balkan anzutreten; gegen Erwerbung Mazedoniens wollte St. zeitweise sogar eine Personalunion, dann nur ein Schutz- und Trutzbündnis mit der Türkei anbieten. Tatsächlich gelang es St., dem Sultan bald durch Druck, bald durch Loyalitätsbezeugungen Zugeständnisse in der mazedonischen Schul- und Bischofsfrage abzuringen. Und 1894 stand er sogar kurz vor dem Abschluß eines Militärbündnisses mit der Türkei und Rumänien. Mit seiner Politik zog sich St. den Haß der Russophilen und Mazedonier zu. Ihren Verschwörungen suchte er mit Polizeiterror Herr zu werden, was der Emigrantenpropaganda neuen Stoff lieferte und Terrorakten neuen Auftrieb gab. Schließlich bereitete St., der wie Ferdinand in ständiger Attentatsfurcht lebte, seinen allmählichen Rückzug aus der vordersten „Schußlinie“ vor: Dem Fürsten legte er die Gründung einer Dynastie nahe und drückte die unpopuläre Änderung des Artikels 38 der Verfassung durch, um dessen Verheiratung mit der katholischen Prinzessin Maria Luisa von Bourbon-Parma (20.04.1893) zu ermöglichen. Sein hartes Regiment milderte er anläßlich der Wahlen im Herbst 1893, um der Opposition durch Entgegenkommen die Angriffspunkte zu nehmen. Doch statt dessen lösten die Aufhebung der Pressezensur und andere Erleichterungen eine hemmungslose Verleumdungs- und Haßkampagne der Opposition aus. Zudem wurde das Verhältnis zwischen dem ehrgeizigen Fürsten und St. immer gespannter. Nach seiner Heirat und der Geburt des Thronfolgers Boris III. (30.01.1894) hatte sich Ferdinands Stellung so weit konsolidiert, daß er daran ging, sich mit Hilfe der Opposition seines unbequemen Premiers zu entledigen. Am 29. Mai 1894 trat St. angesichts der Intrigen Ferdinands zurück. Während die neue Regierung Konstantin Stoilov einen erbarmungslosen Kampf gegen die Parteigänger St.s einleitete, opponierte St. gegen die Etablierung der „Russophilen“ und attackierte in der Zeitschrift „Svoboda“ (Freiheit) die neue Anbiederung an Rußland und die Mazedonienpolitik der Regierung, die nur zu Reibereien mit der Türkei führe. - Bei Fürst und Regierung unerwünscht, von der Polizei gut bewacht, aber nicht geschützt, sah St. sein baldiges Ende voraus. Eine Emigration ins Ausland wurde ihm von den Behörden verwehrt. Am 15. Juli 1895 wurde St. dann mitten in der Stadt am hellichten Tage von seinen Mördern überfallen und buchstäblich in Stücke gehauen. Drei Tage später erlag er seinen Verletzungen. Mit St. ging - gemessen an der „Balkanisierung“ des politischen Lebens unter seinen Nachfolgern - eine grundlegende Ära relativ ruhigen Aufstiegs (nach der Krise von 1887) zu Ende. Seine Gegner nannten ihn „Tyrann“, seine Bewunderer den „bulgarischen Bismarck“: St. war „Fürstenmacher“ und Einiger Bulgariens; er zwang gegen alle Widerstände dem Lande eine nutzbringende Westorientierung und ausgewogene Politik gegenüber der Türkei auf.

Literatur

Beaman, A. Hulme: M. Stambuloff. London 1895 (Reprint New York 1971).
Hajek, Alois: Bulgarien unter der Türkenherrschaft. Berlin 1929.
Ders.: Bulgariens Befreiung und staatliche Entwicklung unter seinem ersten Fürsten. München, Berlin 1939.
Christov, Christo: Kŭm charakteristika na Stambolovija režim. In: Ist. Pregled 8 (1951/52) 19-49.
Königslöw, Joachim von: Ferdinand von Bulgarien. Vom Beginn der Thronkandidatur bis zur Anerkennung durch die Großmächte 1886 bis 1896. München 1970.

Verfasser

Hans-Joachim Hoppe (GND: 143931040)

GND: 11875260X

Weiterführende Information (Deutsche Biographie): https://www.deutsche-biographie.de/pnd11875260X.html


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Empfohlene Zitierweise: Hans-Joachim Hoppe, Stambolov, Stefan Nikolov, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 166-168 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1680, abgerufen am: (Abrufdatum)

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