Churchill, Sir (seit 1953) Winston Leonard Spencer, britischer Staatsmann, * Blenheim Palace, Woodstock (Oxfordshire) 30.11.1874, † London 24.1.1965.
Leben
Als Sohn des nachmaligen Schatzkanzlers Lord Randolph Ch. und der Amerikanerin Jennie Jerome wurde Ch. nach der Absolvierung von Harrow und der Militärakademie von Sandhurst 1895 Leutnant, nahm als Offizier und Kriegsberichterstatter an verschiedenen Feldzügen teil und wurde 1900 für die Konservativen ins Unterhaus gewählt. 1904 trat er zu den Liberalen über, bekleidete verschiedene Kabinettsposten und wurde 1911 Marineminister. In dieser Eigenschaft bereitete er die britische Marine auf den Krieg vor. Nach Kriegsausbruch setzte er sich für ein amphibisches Unternehmen gegen die Dardanellen ein und mußte angesichts der großen Verluste im Mai 1915 seinen Posten aufgeben. 1917 holte ihn Lloyd George als Munitionsminister wieder in sein Kabinett. Nach Kriegsende befürwortete Ch. die bewaffnete Intervention gegen die junge Sowjetmacht. 1922 trat er als Kolonialminister zurück und verließ die im Niedergang befindliche Liberale Partei. Von 1924-1929 war er Schatzminister in der konservativen Regierung Baldwin, um nach dessen Sturz zehn Jahre ohne Amt nur als Abgeordneter und Schriftsteller zu wirken. Bei Beginn des Zweiten Weltkrieges berief ihn Chamberlain zum Marineminister. Nach der Niederlage in Norwegen trat er an die Spitze einer All-Parteien-Regierung und verkörperte den britischen Widerstandswillen angesichts der tödlichen Bedrohung durch Hitlers Sieg in Frankreich. Er knüpfte enge Bande zu dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt und nach Hitlers Einfall in die Sowjetunion auch zu Marschall Stalin, wodurch die Kriegswende zu Gunsten der Alliierten eingeleitet wurde. Er vertrat das Britische Weltreich bei den Konferenzen in Teheran, Jalta und zeitweilig in Potsdam und war der einfallsreiche, unermüdliche Motor der britischen Kriegsanstrengungen. Nach Kriegsende verlor er die Unterhauswahlen und war bis 1951 Führer der Opposition, um dann noch einmal für vier Jahre ein Kabinett zu leiten. Die Entstehung der NATO und die Anfänge einer Vereinigung Westeuropas sind mit seinem Namen verknüpft.
Als glänzender parlamentarischer Redner hat Ch. ein wesentliches Kapitel der Geschichte des ,House of Commons' geschrieben, als vorzüglicher Stilist durch eine große Zahl von Werken auf weite Kreise gewirkt, als beachtlicher Maler sich Anerkennung verschafft. Von seinen Werken seien genannt: Der politische Roman „Savrola“ (1900), die zweibändige Biographie seines Vaters (1906), die vierbändigen Erinnerungen an die Jahre 1911-1918 (1924/28), die vierbändige Lebensbeschreibung seines Vorfahren, des Herzogs von Marlborough (1933/38) und „The second world war“ (6 Bände, 1948/54), wofür er den Literatur-Nobelpreis erhielt.
Mit Südosteuropa war Ch. durch seine Tätigkeit in den beiden Weltkriegen verbunden. Eine Landung an den Dardanellen war in der britischen Marineführung erstmals 1906 diskutiert worden. Bereits am 31. August 1914 plädierte er gemeinsam mit Lord Herbert Kitchener für eine Besetzung dieser Meeresstraße durch die britische Mittelmeerflotte und die griechische Armee. Nachdem die griechische Regierung Neutralität bewahrte, wurde der Angriff durch britische, französische und russische Seestreitkräfte, sowie durch französische und Empire-Truppen unternommen. Nach schweren Verlusten durch den aufopfernden türkisch-deutschen Widerstand wurde er abgebrochen. Er scheiterte an ungenügendem Kräfteeinsatz, mangelnder Koordination und unentschlossener Führung, aber Ch. mußte als politischer Sündenbock für diese Niederlage bezahlen.
Auch im Zweiten Weltkrieg kreiste sein strategisches Denken immer wieder um die Möglichkeit, die neutrale Türkei als Bundesgenossen zu gewinnen und von Südosteuropa her in den „weichen Unterleib“ der Achse einzudringen. Schwerlich stand aber hinter seinen oft wechselnden Einfällen und Anregungen eine konsequent durchdachte Konzeption. Der Versuch, nach dem Putsch des Generals Simović im April 1941 in Belgrad mit britischer Unterstützung eine griechisch-jugoslawische Balkanfront aufzubauen, schlug fehl. Nach dem Kriegseintritt der USA gelang es zwar Ch., die Bundesgenossen zunächst für eine Mittelmeerstrategie zu gewinnen, durch die Italien aus dem Felde geschlagen wurde, aber für ein Landeunternehmen an der Ostküste der Adria waren die Amerikaner nicht zu erwärmen. Politisch zog Ch. daraus die Konsequenz, sich mit Stalin im Oktober 1944 über eine Interessenquote in Südosteuropa zu einigen, die den westlichen Einfluß in Griechenland auf 90, in Ungarn und Jugoslawien auf je 50, in Bulgarien auf 25 und in Rumänien auf 10% begrenzte. Nach der Konferenz von Teheran hatte Ch. die Unterstützung der königstreuen Četnici des Generals Mihailović eingestellt und den kommunistischen Partisanen Titos zugewendet. In dem für die britische Position im Mittelmeer wichtigen Griechenland aber hatte er durch massiven Druck die Vernichtung der nichtkommunistischen EDES-Guerillas durch die kommunistischen ELAS-Partisanen verhindert und sich nicht gescheut, durch die Landung britischer Truppen im Dezember 1944 die Rückkehr der griechischen Exilregierung nach Athen zu erzwingen. In Albanien dagegen opferte er wiederum die nationalen Widerstandsführer seinem Bundesgenossen im Kreml. Sein in strategischer und politischer Hinsicht sicher nicht folgerichtiges Verhalten in Südosteuropa ist zum guten Teil eine Funktion des Niedergangs der britischen Weltmacht gegenüber den stärkeren Bündnispartnern, hat aber immerhin die Machtergreifung der Kommunisten in Griechenland verhindern können. Die Selbstdarstellung Ch.s in seinen Memoiren ist in dieser Hinsicht zu seinen Gunsten gefärbt.
Literatur
Lukacs, John A.: The Great Powers and Eastern Europe. New York 1953.
Marder, Arthur J.: From Dreadnought to Scapa Flow. Bd 2. London 1965.
Minuth, Karl-Heinz: Die westalliierte militärische und politische Südosteuropa-Strategie 1942-1945. (Diss.) Kiel 1966.
Churchill, Randolph S.: Winston Spencer Churchill. 2 Bde. London 1966/67.
Grimm, Gerhard: Churchills „The Second World War“ als Quelle für die Politik und Strategie der Westalliierten in Südosteuropa. In: Südost-Forsch. 26 (1967) 276-313.
Aigner, Dietrich: Winston S. Churchill. In: Politiker des 20. Jh.s. Hrsg. Rolf K. Hočevar u. a. Bd 1. München 1970, 301-326.