Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Aehrenthal, Aloys Lexa von
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Aehrenthal, Aloys Lexa von

Aehrenthal, Aloys Lexa Graf von, Diplomat und österreichisch-ungarischer Minister des Äußern, * Groß-Skal (Böhmen) 27.11.1854, † Wien 17.02.1912, Sohn eines der Führer der verfassungstreuen deutsch-böhmischen Großgrundbesitzer, Freiherrn Johann Friedrich Lexa v. A., und der Gräfin Maria von Thun-Hohenstein.

Leben

Seine diplomatische Laufbahn begann A. als Attaché in Paris; 1878 kam er nach Petersburg. 1883 wurde er ins Ministerium des Äußern berufen und 1888 der Botschaft in Petersburg zugeteilt. Seit 1895 war er Gesandter in Bukarest. 1899-1906 bekleidete er das Amt des Botschafters in Petersburg. Am 24. Oktober 1906 wurde A. als Nachfolger Goluchowskis k.u.k. Minister des Äußern. Unter Goluchowski war die Erhaltung des Status quo zum bescheidenen Ziel der österreichischen Balkanpolitik geworden. A. gedachte demgegenüber die Interessen der Monarchie im Südosten mit positiven Zielsetzungen mehr zur Geltung zu bringen. Er wurde zum beharrlichen Fürsprecher eines aktiven und unabhängigen diplomatischen Kurses Österreich-Ungarns am Balkan. Es mußte notwendigerweise zu einer Auseinandersetzung mit Rußland kommen, das nach der Liquidierung der Expansionspolitik im Fernen Osten sich um die Wiedergewinnung der alten führenden Stellung in Südosteuropa bemühmte. A. und Iswolski - seit 1906 russischer Außenminister - waren in den folgenden Krisen die großen Gegenspieler. Auf dem Wege einer zweifellos imperialistischen österreichisch-ungarischen Handelspolitik plante A. eine intensive wirtschaftliche Durchdringung der Balkanhalbinsel. Das Projekt einer Eisenbahn nach Saloniki über den Sandschak Novipazar war Teil dieser wirtschaftlichen und diplomatischen Offensive. Im Januar 1908 verkündete A. diesen Plan, der in Rußland gewaltige Erregung hervorrief und die bisherige Balkanentente zwischen Rußland und Österreich-Ungarn schwer erschütterte. Es wurde sogar ein Krieg gegen die Doppelmonarchie zum Schutze Serbiens erwogen. In Ausnützung dieser Krise und im Zuge der russisch-englischen Annäherung war besonders England bestrebt, das Balkanproblem zu einer Angelegenheit aller europäischen Mächte zu machen (so wurde z. B. die Europäisierung der mazedonischen Frage erreicht). Die Frage der Sandschakbahn wurde beigelegt. Das nächste Projekt A.s betraf die Änderung der verfassungsrechtlichen Stellung Bosniens und der Herzegowina, denn diese Länder sollten auch de jure in die Habsburgermonarchie einverleibt werden und damit die Okkupation in eine Annexion verwandelt werden. Dabei spielte die jungtürkische Revolution, die am 6. Juli 1908 ausbrach, eine erhebliche Rolle. Das Osmanische Reich sollte in einen Verfassungsstaat mit Gleichberechtigung und Wahlrecht für alle Untertanen umgewandelt werden. Um jeden Anspruch des neuen Regimes auf die okkupierten Provinzen von vornherein abzuweisen, wurden diese Länder annektiert. Dies war auch ganz im Sinne einer Gruppe ungarischer Staatsmänner, die durch die Annexion die für die Länder der Stephanskrone so gefährliche südslawische Bewegung zurückzudrängen hoffte. Die Annexion Bosniens und der Herzegowina wurde nicht im Einvernehmen mit den Großmächten durchgeführt. Nachdem A. Iswolski auf einer Zusammenkunft in Buchlau (16.09.1908) in unbestimmter Form auf die Annexion vorbereitete, wurde diese überraschend den Mächten angekündigt (5.10. 1908). A. sprach gleichzeitig mit der Annexion den Verzicht Österreich-Ungarns auf seine Rechte im Sandschak aus. Am gleichen Tag erfolgte die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens durch Fürst Ferdinand. A. erregte durch sein selbständiges Vorgehen den heftigsten Widerstand nicht nur Serbiens, Montenegros und der Türkei, sondern auch der Westmächte und Rußlands, das in der Folge bemüht war, die Meerengenfrage mit der Annexionsfrage zu verknüpfen. Iswolski forderte eine Konferenz der Signatarmächte des Berliner Vertrages, welcher Plan von A., freilich auch aus Furcht, überstimmt zu werden, entschieden abgelehnt wurde. In Rußland und Serbien gab es Kriegsalarm, doch A. gelang es, kriegerische Ausweitungen zu vermeiden. Nach einem mehrmonatigen diplomatischen Kampf anerkannte die Türkei am 26. Februar 1909 die Annexion gegen Rückgabe des Sandschaks und nach Erhalt einer Geldentschädigung. Durch Vermittlung Deutschlands erklärte sich schließlich auch Iswolski zur Anerkennung der Annexion bereit. Serbien, das sich am meisten exponiert hatte, mußte ebenfalls den Rückzug antreten (März 1909). Neuere Forschungen (Wank) zeigen, daß die Annexion auch im Zusammenhang mit A.s Programm zur internen Reorganisation der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu sehen ist (Programm von 1907, in dem die südslawische Frage im Mittelpunkt steht). Křížek rollt die Problematik der Annexion von der finanz- und wirtschaftspolitischen Seite auf. Die Folge der Krise war eine weitere Verschlechterung des Verhältnisses Österreich-Ungarns zu Rußland und Serbien. Ähnlich ungünstig waren die Rückwirkungen auf die Beziehungen zum Dreibundpartner Italien, das schon vor der Krise seine Balkanpolitik forcierte und eine etwaige Steigerung des österreichischen Einflusses in Albanien befürchtete. Im Vertrag von Racconigi (Oktober 1909) vereinbarten Italien und Rußland die Aufrechterhaltung des Status quo am Balkan. A. verfolgte auch in den folgenden Jahren, vor allem während der Marokkokrise und des italienischen Tripoliskrieges, eine friedliche Politik. A.s fortschreitende Krankheit (Leukämie) machte im Januar 1912 seine Enthebung vom Amte notwendig.

Literatur

Carlgren, Wilhelm M.: Iswolsky und Aehrenthal vor der bosnischen Annexionskrise. Russische und österreichisch-ungarische Balkanpolitik 1906 bis 1908. Uppsala 1955.
Wank, Solomon: Aehrenthal’s Programme for the Constitutional Transformation of the Habsburg Monarchy: Three Secret Mémoires. In: Slavonic and East Europ. Rev. 97 (1963) 513-536.
Křížek, Jurij: Annexion de la Bosnie et Herzégovine. In: Historica 9 (1964) 135-203.
Rutkowski, Ernst R. von: Aehrenthal über die innenpolitische Lage Österreich-Ungarns im Sommer 1899. In: Südost-Forsch. 23 (1964) 284-297.
Wank, Solomon: Aehrenthal and the Sanjak of Novibazar Railway Project: a Reappraisal. In: Slavonic and East Europ. Rev. 99 (1964) 353-369.
Heilbronner, Hans: Count Aehrenthal and Russian Jewry 1903-1907. In: J. mod. Hist. 38 (1966) 394-406.
Popp, Gerda: Aehrenthal und Berchtold im Urteil der englischsprechenden Welt. (Diss.) Graz 1966.
Wank, Solomon: Zwei Dokumente Aehrenthals aus den Jahren 1898 bis 1899 zur Lösung der inneren Krise in Österreich-Ungarn. In: Mitt. österr. Staatsarch. 19 (1966) 339-362.
Wank, Solomon: A Note on the Genealogy of a Fact: Aehrenthal’s Jewish Ancestry. In: J. mod. Hist. 41 (1969) 319-326. Schuster, Peter: Henry Wickham Steed und die Habsburgermonarchie. Wien, Köln, Graz 1970. = Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs. 53.

Verfasser

Friedrich Gottas (GND: 105731153)


GND: 119182033

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Empfohlene Zitierweise: Friedrich Gottas, Aehrenthal, Aloys Lexa von, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 1. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1974, S. 14-16 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=398, abgerufen am: (Abrufdatum)

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