Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Kautsky, Karl
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Kautsky, Karl

Kautsky, Karl, deutscher sozialistischer Theoretiker und Publizist, * Prag 16.10.1854, † Amsterdam 17.10.1938, Sohn des tschechischen Theatermalers Jan K. und der deutschen Schauspielerin Minna Jaich.

Leben

 K. wuchs im Theater- und Künstlermilieu der böhmischen Hauptstadt auf, wo er schon frühzeitig Eindrücke über das Nationalitätenproblem gewann. Unter dem Einfluß eines tschechischen Hauslehrers mit protestantisch-hussitischen Anschauungen gelangte K. schon sehr früh zu demokratischen Überzeugungen und sah sich mit der sozialen Frage konfrontiert. Nach der Übersiedlung der Familie nach Wien 1862 kam K. 1864 ins Internat des Melker Stiftsgymnasiums, doch blieb die katholische Erziehung bei ihm um so erfolgloser, als er bereits infolge der Kriegsereignisse 1866 nach Wien ans Akademische Gymnasium kam. Hier an der Oberstufe war K. - nach Beispiel des Vaters - Anhänger eines kompromißlosen tschechischen Nationalismus und entwickelte sich zum radikalen Demokraten. Unter dem Eindruck der Pariser Kommune erfolgte dann eine Wandlung zum Internationalismus und Sozialismus, und ab 1873 war K. ein scharfer Gegner jedes Nationalismus. Er studierte die Schriften von Ferdinand Lassalle und Friedrich Albert Lange sowie Charles Darwin, dessen Lehren für ihn bestimmend wurden, als er sie im Sinne eines Fortschritts der Gesellschaft auf den sozialen Bereich anwendete. Ab 1874 besuchte er die Wiener Universität, ohne ein geregeltes Studium und feste Berufsabsichten. 1875 stieß er zu den österreichischen Sozialdemokraten, für die er als Journalist tätig war, obwohl er gegen die zentralistische Parteilinie in der Folge häufig Stellung nahm. Seiner fatalistischen Grundeinstellung kam die Überzeugung vom unvermeidlichen Zerfall der Doppelmonarchie entgegen. Auf Betreiben und Empfehlung der deutschen Sozialdemokraten, besonders von Wilhelm Liebknecht, ging K. 1880 zu deren Förderer Karl Höchberg nach Zürich. Im Verkehr mit dessen Sekretär Eduard Bernstein kam es zur ersten Bekanntschaft mit Marx und Engels. Da K. den Kontakt mit den Tschechen verloren hatte, trat er in der Schweiz in Beziehungen mit der russischen Emigration, da er sich weiterhin zu den Slawen hingezogen fühlte. Er studierte die Schriften von Nikolaj Černiševskij und Peter Lavrov und war auch mit späteren Menschewiki befreundet. Anhand der Schweizer Verhältnisse studierte er die Sprachenfragen und entwickelte dabei ein eigenes Nationalitätenprogramm, das freilich in vielem widerspruchsvoll war und in seinen föderalistischen Zügen erst in fernerer Zukunft realisierbar schien. 1885 übersiedelte K. nach London zu Marx und Engels und wurde Sekretär des letzteren. Von 1883 an gab er die in Stuttgart erscheinende „Neue Zeit“ heraus (bis 1917), die bald zum führenden Organ der marxistischen Internationale wurde, nicht nur im deutschen Sprachgebiet sondern auch in Ost- und Südosteuropa, wo sie die Ideologie des demokratischen Sozialismus bis zur Gegenwart mitbestimmte. K. gelang die Popularisierung des Marxismus besonders in seinen ökonomischen Bezügen (Karl Marx’ ökonomische Lehren, 1887), wobei freilich von Anfang an seinem Marxverständnis Grenzen gezogen waren. Vor allem die Verschmelzung mit darwinistischen Elementen, der fast blinde Glaube an die Automatik der gesellschaftlichen Entwicklung führte zu einer Heilsgewißheit, die die revolutionären Prinzipien des Marxismus zurücktreten ließen. K. verfaßte den theoretischen, grundsätzlichen Teil des Erfurter Programms (1891), in dem sich schon in der ideologischen Abschirmung gewisse passive Züge der künftigen sozialdemokratischen Politik ankündigten. K. war schon 1890 nach Deutschland zurückgekehrt und lebte zunächst in Stuttgart, ab 1897 in Berlin. Er fühlte sich - als Herausgeber der letzten Teile von Marx’ „Kapital“ - als legitimer Erbe von Marx und Engels im Kampf gegen den Revisionismus von Bernstein und Eduard David, aber auch gegen die Linken wie Rosa Luxemburg, die er in der nationalen Frage unterstützt hatte, aber in der Kontroverse um den Massenstreik zurückwies. Indem er auch alle anarchistischen und blanquisti- schen Abweichungen unterdrückte, festigte er die ideologische Position des Zentrismus; damit steht er in der Theorie den sog. Austromarxisten nahe.
 Im Ultimatum an Serbien im Juli 1914 sah K. einen reinen Verzweiflungsakt der Wiener Politik und lehnte angesichts der für ihn offensichtlichen Kriegsschuld der Mittelmächte die sozialdemokratische Politik ab. Er trat gegen die Parteispaltung auf, schloß sich aber der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ (USPD) an. Für ihn waren das Zarentum und die Habsburgermonarchie gleicherweise reaktionäre Gebilde, und in einer Reihe von Schriften kämpfte er während des Krieges für das Selbstbestimmungsrecht (Nationalstaat, Imperialistischer Staat, Staatenbund, 1915; Die Vereinigten Staaten Mitteleuropas, 1916; Serbien und Belgien in der Geschichte, 1917; Die Befreiung der Nationen, 1918). K. sah in den Lehren Lenins und im Bolschewismus eine Entartung des Marxismus. Nach dem Umsturz war er 1918/19 deutscher Unterstaatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten und gab „Dokumente zum Kriegsausbruch“ heraus. K. war auch Vorsitzender der Sozialisierungskommission. 1920 war er in Georgien und unterstützte den Kampf der georgischen Sozialdemokraten gegen die Kommunisten. Er verließ die USPD und trat für die Wiedervereinigung ein, spielte aber in der Weimarer Zeit keine bestimmende Rolle mehr. Er kehrte immer öfter nach Wien zurück, wo er sich nach dem Sieg Hitlers 1933 dauernd niederließ. 1934 wurde er tschechoslowakischer Staatsbürger, floh 1938 vor den Nationalsozialisten nach Prag und von dort nach Holland. Seine Frau Luise Ronsberger kam am 8. (?) Dezember 1944 in Auschwitz um.

Literatur

Adler, Friedrich (Hrsg.): Victor Adler. Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky. Wien 1954.
Kautsky, Benedikt (Hrsg.): Friedrich Engels’ Briefwechsel mit Karl Kautsky. Wien 1955.
Matthias, Erich: Kautsky und der Kautskyanismus. In: Marxismusstudien. 2. Folge. Tübingen 1957, 151-197.
Kautsky, Karl: Erinnerungen und Erörterungen. Hrsg. Benedikt Kautsky. ’s-Gravenhage 1960.
Blumenberg, Werner: Karl Kautskys literarisches Werk. Eine bibliographische Übersicht. ’s-Gravenhage 1960.
Mommsen, Hans: Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im Habsburger Vielvölkerstaat. Bd 1. Wien 1964.
Holzheuer, Walter: Karl Kautskys Werk als Weltanschauung. München 1972.

Verfasser

Rudolf Neck (GND: 118586734)

GND: 118560808

Weiterführende Information (Deutsche Biographie): https://www.deutsche-biographie.de/pnd118560808.html


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Empfohlene Zitierweise: Rudolf Neck, Kautsky, Karl, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 2. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1976, S. 387-389 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1116, abgerufen am: (Abrufdatum)

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