Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Evliya Çelebi
Bild: Wikimedia Commons
Wikidata: Q202308

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Evliya Çelebi

Evliya Çelebi, osmanischer Reisebeschreiber des 17. Jh.s, Sohn des Derviş Mehemmed-i Zıllî; sein eigentlicher Name ist unbekannt: Evliya („Heilig“) ist nur ein Pseudonym, Çelebi (etwa: „Meister“) eine titelartige Standesbezeichnung für Literaten.

Leben

E., über dessen Lebenslauf wir nur seine eigenen, oft unwahrscheinlichen oder widersprüchlichen Angaben haben, kam laut diesen am 25. März 1611 in Istanbul als Sohn des damaligen Hofgoldschmieds Derviş Mehemmed-i Zıllî zur Welt und wurde im Alter von 25 Jahren, ohne sein Studium an der (geistlichen) Hochschule abgeschlossen zu haben, von Sultan Murad IV. als Page in den Palast aufgenommen, wo er Unterricht in Koranrezitation erhielt und sich ob seines Witzes und Unterhaltungstalentes der Gunst des Großherrn erfreute. Mit dem Rang eines besoldeten Gardereiters versehen, verließ er 1638 den Hofdienst und begann 1640 ein rastloses Wanderleben als „Weltreisender“, das ihn, oft im Gefolge hoher Würdenträger, durch nahezu alle Provinzen des Osmanenreiches und auch über dessen Grenzen hinaus führte, von Zentralpersien im Osten bis vor Venedig (aber entgegen seiner Behauptung kaum auch nach Wien und keinesfalls bis Holland) im Westen und etwa von Lemberg (aber gewiß nicht auch „Danzig“ und „Dänemark“) im Norden bis in das sudanesische Sennar im Süden. Ab 1673 scheint er lange Jahre in Ägypten geblieben zu sein; wo und wann er gestorben ist (offenbar nicht vor 1685), ist ebensowenig bekannt wie seine Grabstätte.
Seine Reisen hat E. im etwas salopp gehandhabten Stil der gebildeteren Istanbuler Umgangssprache in seinem insgesamt etwa 8000 Druckseiten erfordernden 10bändigen „Seyahatname“ (Fahrtenbuch, Istanbul 1896-1900, 1929, 1935, 1938) beschrieben, das freilich der offenbar vorgesehenen vereinheitlichenden Schlußredaktion nicht mehr unterzogen worden, sondern ein Entwurf mit zahllosen „vorläufigen“ Lücken und auch inhaltlichen Widersprüchen geblieben ist; so läßt sich heute noch erkennen, daß etwa der 1. Band (Istanbul und der Bosporus) wahrscheinlich als letzter und jedenfalls vor dem 10. Band (Ägypten, Sudan und Abessinien) niedergeschrieben worden ist. Trotz seiner vielfältigen Mangelhaftigkeit ist das Riesenwerk für die osmanistische Forschung eine ihrer allerwichtigsten Quellen: Als Reisender und Reiseschilderer aus Passion, geistig beweglich bis zur Sprunghaftigkeit und zum Verlust des Überblicks über größere thematische Zusammenhänge, wißbegierig auf eine eher naive Art, literarisch halbwegs beschlagen und im Rahmen des damaligen türkisch-islamischen Bildungsgutes über allerlei Kenntnisse verfügend, aber auch nach den Maßstäben seines eigenen Kulturmilieus noch lange kein wirklich Gelehrter und dazu nicht nur völlig unkritisch, sondern in seiner Eitelkeit und Renommiersucht auch geradezu skrupellos im Vergewaltigen der Wahrheit ebenso wie beim geistigen Diebstahl (z. B. aus dem geographischen Werke des Mehemmed-i 'Aşık), hat dieser merkwürdige E. in seinem „Fahrtenbuch“, der umfänglichsten und wohl auch originellsten Memoirenschrift der osmanischen Literatur, ein wahres Kolossalgemälde vom physischen und auch geistigen Habitus des Osmanischen Reiches im 17. Jh. geschaffen, mit einer schier unerschöpflichen Fülle von geo- und topographisch, religions- und volkskundlich, kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlich und anderweitig wichtigen Nachrichten. Für ihre noch zu leistende wissenschaftliche Auswertung liegen vielerlei Schwierigkeiten im sprachlichen Verständnis des Textes mit seinen zahlreichen sonst unbelegten Wendungen und Vokabeln (besonders auf dem Gebiete der Realien), in der Identifizierung von verballhornten und anderweitig unbekannten Ortsnamen und vor allem in der kritischen Ermittlung des Wahrheitsgehaltes des „Seyahatname“, in dem neben nachweislich authentischen Beschreibungen von Örtlichkeiten und Bauwerken auch die treuherzigsten „Berichte“ über einfach unmögliche „eigene Erlebnisse“ und unbezweifelbar fiktive Reisen stehen. Jedenfalls aber hat E. verhältnismäßig weite Reisen auf der Balkanhalbinsel und in Kleinasien durchgeführt: Daß er etwa Adana in Südostanatolien, Kjustendil in Südwestbulgarien und Foča in der Herzegowina jeweils zu der von ihm angegebenen Zeit tatsächlich besucht hat, ist durch drei Wandinschriften erwiesen, die dort gefunden und nunmehr als von seiner Hand stammend erkannt worden sind.
Das damalige osmanische Südosteuropa erscheint bei E. auf Grund mehrerer Reisen und Feldzüge nahezu in seiner gesamten Ausdehnung beschrieben, und die Mehrzahl der diesbezüglichen Teile des „Seyahatname“ ist den Nichtosmanisten durch die unten angeführten Übersetzungen, Paraphrasen oder Abhandlungen wenigstens vorläufig erschlossen worden. Aber der endgültigen wissenschaftlichen Auswertung des „Fahrtenbuches“ muß statt der auf unbrauchbaren Textabschriften beruhenden und noch zusätzlich arg entstellten und verstümmelten türkischen Druckausgabe der erst 1971 identifizierte, allein zuverlässige Originaltext von E.s eigener Hand zugrundegelegt werden, der, mit Ausnahme der offenbar verschollenen Bände 9 und 10, in Istanbul erhalten geblieben ist und dessen wissenschaftliche Edition eine dringende Aufgabe der osmanistischen Forschung darstellt.

Literatur

Babinger, Franz: Evlijâ Tschelebis Reisewege in Albanien. In: Mitt. Sem. Orient. Sprachen 33, 2 (1930) 138-178 (Nachdruck in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen zur Geschichte Südosteuropas und der Levante. Bd 2. München 1966, 51-89).
Šabanović, Hazim: Evlija Čelebija Putopis odlomci o Jugoslovenskim Zemljama. Sarajevo 1957, 1967(2).
Turková, Helena: Die Reisen und Streifzüge Evliyâ Çelebis in Dalmatien und Bosnien. Prag 1965.
Abrahamowicz, Zygmunt (u. a.): Księga Podróży Evlija Czelebiego. o. O. 1969.
Hidiroglou, P.: Das religiöse Leben auf Kreta nach Ewlija Čelebi. Leiden 1969.
Wolfart, Ulrich: Die Reisen des Evliya Čelebi durch die Morea. München 1970.
Kreutei, Richard F.: Neues zur Evliya-Çelebi-Forschung. In: Der Islam 48 (1972) 269-279.

Verfasser

Richard Franz Kreutel (GND: 124150039)

GND: 11890390X

Weiterführende Information (Deutsche Biographie): https://www.deutsche-biographie.de/pnd11890390X.html


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Empfohlene Zitierweise: Richard Franz Kreutel, Evliya Çelebi, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 1. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1974, S. 480-481 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=794, abgerufen am: (Abrufdatum)

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