Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Tucović, Dimitrije
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Tucović, Dimitrije

Tucović, Dimitrije, serbischer Sozialist und Politiker, * Gostilje 13.05.1881, † bei Lazarevac 20.11.1914.

Leben

T., der Sohn eines orthodoxen Popen, gehört zu den Begründern der organisierten serbischen Arbeiterbewegung klassisch-marxistischen Typs. Während sich Svetozar Mar kovič und Vašo Pelagič in den 70er und 80er Jahren des 19. Jh.s unter dem Einfluß der frühsozialistischen und sozialutopischen Ideen Cernysevskijs und der russischen Narodniki vor allem für die Handwerker-Vereinigungen und die Organisierung ländlicher Produktions- und Verkaufsgenossenschaften engagiert hatten, gehörten T. sowie seine Freunde Radovan Dragovič und Dušan Popovič unter den veränderten sozialen Verhältnissen nach der Jahrhundertwende (Entstehung eines Industrieproletariats) zu den ersten Vertretern des ausgereiften wissenschaftlichen Sozialismus in Serbien.
Wie Dragovič und Popovič, so besuchte auch T. das Realgymnasium in Užice, wo er sich unter dem Einfluß der sozialistischen Schülervereinigung „Napredak“ (Fortschritt) in die marxistische Literatur einarbeitete. 1899 ging er nach Belgrad und begann von dort zwei Jahre später das Studium der Rechtswissenschaften, das er 1906 mit dem Diplom abschloß. Anfang 1902 wurde er Sekretär des Klubs der sozialistischen Hochschüler sowie der Belgrader Arbeiter-Assoziation, der einzigen sozialistischen Arbeiterorganisation im damaligen Serbien. Zur gleichen Zeit erneuerte er zusammen mit Dragovič die 1897 begründete „Arbeiter-Zeitung“ (Radničke Novine), das spätere Organ der Serbischen Sozialdemokratischen Partei (SSDS). Als Mitglied des geheimen politischen Führungsgremiums der serbischen Arbeiterbewegung, des 1902 gegründeten Zentralausschusses, gehörte er mit Triša Kaclerovič u. a. zu den Organisatoren der März-Demonstrationen vom 23. März 1903 (a.St.) gegen das diktatorische Regime von Aleksandar Ohrenovič. Anschließend verließ er für kurze Zeit das Land, kehrte aber nach der Ermordnung des Königs am 11. Juni 1903 wieder zurück und bereitete mit Dragovič den Gründungskongreß der SSDS am 2. August 1903 vor.
In den folgenden Jahren sah sich die junge Partei unter ihrem Ersten Sekretär Dragovič mit einer Reihe innerparteilicher Auseinandersetzungen über den Reformismus und das Verhältnis zu den Gewerkschaften konfrontiert. Durch den von Dragovič und T. betriebenen Parteiausschluß der „Revisionisten“ um Jovan Skerlič und Kosta Jovanovič sowie der „Syndikalisten“ um Milorad Popovič gelang es, die Partei innerlich zu festigen und ihre führende Rolle in der Arbeiterbewegung auszubauen.
Nach einem halbjährigen Aufenthalt in Berlin (September 1907-April 1908) wurde T. auf dem 6. Kongreß der SSDS zum Ersten Parteisekretär gewählt (April 1908-November 1911). Gleichzeitig übernahm er die Chefredaktion der „Radničke Novine“ (bis Juli 1910). Als serbischer Vertreter auf zahlreichen Kongressen jener Jahre erwarb sich T. bald den Ruf eines international bekannten und anerkannten Marxisten. Im März 1909 wurde er Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros (bis Dezember 1911) und nahm als Delegierter seiner Partei am 8. Internationalen Sozialistenkongreß in Kopenhagen teil. Dank seines energischen Einsatzes war es schon vorher (7.-9.01.1910) zur 1. Balkankonferenz der sozialistischen Parteien gekommen, auf der sich die Teilnehmer für eine Balkanföderation gleichberechtigter freier Völker und gegen die imperialistischen Bestrebungen der Großmächte sowie der Regierungen einzelner südosteuropäischer Staaten ausgesprochen hatten.
In der eigenen Partei zeichnete sich ab 1910 hinsichtlich der Taktik gegenüber der Landbevölkerung wieder ein Konflikt ab. T., der eine stärkere Agitation seiner Partei auf dem Lande befürwortete, geriet in Gegensatz zu dem Flügel um Dragiša Lapčevič und gab seinen Posten als Erster Parteisekretär an Dušan Popovič ab. Bereits auf dem außerordentlichen Kongreß vom Februar 1912 kehrte er jedoch neben seinem Schulfreund als Sekretär in die Parteiführung zurück. Im Oktober wurde er zum Militär eingezogen, übernahm nach seiner Entlassung im August des folgenden Jahres abermals die Führung der Partei und wurde 1914 ein zweites Mal Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros. Am 25. Juli 1914 wurde er wieder mobilisiert und fiel vier Monate später in der Verteidigungsschlacht an der Kolubara.
T.s Bedeutung für die Entwicklung der serbischen Arbeiterbewegung beruht auf seinen theoretischen und organisatorischen Fähigkeiten. Als führender Kopf der serbischen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg vertrat er eine konsequent marxistische Linie. Seine Kritik an den imperialistischen Zielen der Großmächte auf dem Balkan, vor allem an der österreichischen Annexion Bosniens und der Herzegowina, brachte ihn nicht nur in Konflikt mit der österreichischen Schwesterpartei, der er „Sozialchauvinismus“ vorhielt, sondern auch mit führenden deutschen Sozialisten. Dasselbe gilt hinsichtlich seiner kompromißlosen Ablehnung des Krieges (einschließlich des Verteidigungskrieges) und der Kriegskredite. Auch in der Beurteilung der nationalen Frage kam es zu Differenzen mit den Austromarxisten. Dem auf dem Individualprinzip beruhenden Nationalitätenprogramm Karl Renners hielt T. sein Konzept eines mit der sozialistischen Revolution kombinierten Befreiungskampfes der südosteuropäischen Völker (mit dem Ziel der Errichtung einer Balkanföderation) entgegen und verurteilte folgerichtig auch die expansionistische Politik der serbischen Regierung gegenüber den Albanern in seiner berühmten Schrift „Srbija i Arbanija“ (Belgrad 1914 sowie mehrere Neuauflagen). [Dazu und zu seinen übrigen Stellungnahmen vgl. die neueste Ausgabe der „Celokupna dela“ (Gesammelte Werke) 2 Bde, Belgrad 1975 und „Prepiska“ (Korrespondenz), Titovo Užice 1974.]
In organisatorischer Hinsicht wurde die SSDS unter T.s Führung zur marxistischen Klassenpartei konsolidiert. Die Zahl der Mitglieder verneunfachte sich von 300 i. J. 1904/05 auf 2889 i.J. 1910/11. Bei den Parlamentswahlen von 1903 erhielt die Partei (infolge des relativ hohen Wahlzensus) zwar nur 2900 Stimmen, doch erhöhte sich der Anteil bei den Wahlen von 1912 auf über 29.000 Stimmen (darunter mehr als 24.000 Stimmen vom Land). In politischer Hinsicht konnte die SSDS mit der Durchsetzung des Arbeitsgesetzes i.J. 1910 (Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf 10 Stunden, Einführung einer Versicherung und verschiedener Schutzbestimmungen) ihren ersten großen Erfolg verzeichnen.

Literatur

Lapčević, Dragiša: Istorija socijalizma u Srbiji. Beograd 1922.
Popović, Nikola M.: Dimitrije Tucović. Njegov život i rad. Beograd 1935.
Dimitrijević, Sergije: Dimitrije Tucović, marksistički neimar srpske socijal-demokratske stranke. In: Istoriski Glasnik (1949) 4, 7-19.
Pijade, Moša: O Dimitriju Tucoviću. Beograd, Zagreb, Ljubljana 1950.
Istorijski arhiv Komunističke Partije Jugoslavije. Bd 3: Socijalistički pokret u Srbiji 1900-1919. Beograd 1950.
Dimitrijević, Sergije: Učešće balkanskih socijalista u Drugoj Internacionali (1880-1910). Beograd 1960.
Srpska Socijaldemokratska Partija. Naučni skup posvećen pedesetogodišnjici smrti Dimitrija Tucovića ... Beograd 1965.
Srpska Socijaldemo kratska Partija. Gradja (1901-1905). Beograd 1966.
Savićević, Desanka: Društvena i politička teorija i kritika u radovima D. Tucovića. Beograd 1972.

Verfasser

Holm Sundhaussen (GND: 120956055)

GND: 119108887

Weiterführende Information (Deutsche Biographie): https://www.deutsche-biographie.de/pnd119108887.html


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Empfohlene Zitierweise: Holm Sundhaussen, Tucović, Dimitrije, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 362-364 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1809, abgerufen am: (Abrufdatum)

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