Gorčakov, Aleksandr Michajlovič Fürst

GND: 118696475

Gorčakov, Aleksandr Michajlovič Fürst, russischer Außenminister und „Kanzler“, * Haapsalu (Estland) 15.06.1798, † Baden-Baden 11.03.1883.

Leben

Von dem Teilfürsten Michail Vsevolodovič von Černigov († 1246) herstammend, im Lyzeum von Carskoe Selo Mitschüler Puškins, der ihn „des Glückes begünstigten Sohn“ nannte, war G. von 1856 bis 1882 der Außenminister Alexanders II. Als Attaché des Grafen Nesselrode wohnte er den Kongressen von Troppau (1820), Laibach (1821) und Verona (1822) bei, wurde 1824 Legationssekretär in London, 1829 Geschäftsträger in Florenz, 1832 Botschaftsrat in Wien, 1841 Gesandter am württembergischen Hof, 1850 - unter Beibehaltung seiner Stuttgarter Funktion - Bevollmächtigter am Frankfurter Bundestag, wo er mit Bismarck Freundschaft schloß, und 1854 Gesandter in Wien. Sein Amtsantritt als Minister des Auswärtigen fiel mit dem Ende des verlorenen Krimkrieges zusammen. So war denn G.s Außenpolitik zunächst auf die Überwindung der Isolierung Rußlands gerichtet. Darauf bedacht, die durch die Niederlage erschütterte Position Petersburgs auf dem Balkan wiederherzustellen, betrieb G. eine gegen die Donaumonarchie gezielte Politik und suchte zugleich Annäherung an Paris. Als ihm 1862 der Titel „Kanzler“ verliehen wurde, galt er als der mächtigste Minister Europas. Nach den Ereignissen des polnischen Aufstandes 1863, den er zusammen mit Bismarck niederschlug, unterstützte er auf kluge Weise den Machtanstieg Preußens. Er verstand es, Bismarck der russischen Freundschaft zu versichern, die dieser im Hinblick auf die Reichsgründung entscheidend brauchte. Die wohlwollende Neutralität, die Petersburg während des deutsch-französischen Krieges übte, münzte G. auf der Londoner Pontus-Konferenz (März 1871) um in die Forderung nach Aufhebung der Schwarzmeer-Klausel des Pariser Friedens von 1856. Rußland erhielt wieder das Recht, am Schwarzen Meer Marinebasen zu errichten.
In der Folge begann G. die Orientalische Frage wieder aufzugreifen. Durch Vermittlung Bismarcks gelang ihm bei der Dreikaiser-Zusammenkunft in Berlin (September 1872) der Ausgleich mit Österreich-Ungarn, der anderen stark am Balkan interessierten Großmacht. Dieser Ausgleich war aber nicht von langer Dauer. Schon bald nach dem Drei-Kaiser-Abkommen (Oktober 1873) traten die unterschiedlichen deutschen und russischen Interessen und die Gegensätze zwischen Wien und Petersburg deutlicher denn je zutage. G. fühlte sich in seiner Abneigung gegen Österreich-Ungarn bestärkt, besonders seitdem Bismarck die diplomatische Zusammenarbeit mit dem k. u. k. Außenminister Andrássy intensivierte. Die Folge war eine wachsende Entfremdung zwischen dem deutschen und dem russischen Kanzler. Das labile Gleichgewicht der Großmächte war zudem durch den Antagonismus zwischen Rußland und England bedroht; London lebte in der Befürchtung, daß der Suez-Kanal und damit die englische Verbindungslinie nach Indien in russische Hand fallen könnten. Die weitere Kooperation der drei Kaiserreiche wurde erschüttert, als G. es in der Krieg-in-Sicht-Krise (1875) ablehnte, Deutschland gegen Frankreich zu unterstützen. Fortan trat die französische Orientierung der russischen Außenpolitik und das Bestreben, die Orientalische Frage im Sinne einer Vorherrschaft Petersburgs auf dem Balkan zu lösen, als Grundlinie der Konzeptionen G.s noch klarer hervor.
In der Orient-Krise wuchsen die Spannungen unter den Mächten weiter an. Als sich 1875 Bosnien und die Herzegowina gegen den türkischen Oberherrn erhoben und im Juli 1876 Serbien und Montenegro, die nominell noch unter türkischer Oberherrschaft standen, den Krieg gegen das Osmanische Reich eröffneten, um ein Übergreifen der türkischen Offensive gegen die Aufständischen zu verhindern, fühlte sich Rußland am stärksten in seinen Ansprüchen betroffen. Eine Beruhigung der Krisensituation war nahezu unmöglich geworden, nachdem es der englische Premierminister Disraeli abgelehnt hatte, dem Berliner Memorandum beizutreten (Mai 1876), mit dem G., Bismarck und Andrássy noch einmal versuchten, den Status quo auf dem Balkan zu retten. Im Juli 1876 stimmten G. und Andrássy im Geheimabkommen von Reichstadt in Nordböhmen überein, im Falle einer serbischen Niederlage im Waffengang mit den Osmanen den Bestand Serbiens und Montenegros zu erhalten, im Falle einer türkischen Niederlage hingegen sollte Rußland den 1856 verlorenen Südteil Bessarabiens bis zum Donaudelta in Besitz nehmen, Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina. Von G. und Andrássy nicht erwartet, brachten die Türken den Serben Ende Juli 1876 eine vernichtende Niederlage bei. Da es ihm also nicht glückte, Istanbul im Frieden unter den herrschenden Einfluß Rußlands zu bringen, erklärte G., getrieben von der starken panslawistischen Bewegung, den Krieg. Zuvor hatte er sich der Neutralität Berlins versichert, das keine eigenen Ansprüche auf dem Balkan hatte. Mit der Donaumonarchie grenzte G. seine Interessen in der Konvention von Budapest (Januar 1877) ab. Ende Januar 1878 mußte Istanbul den Waffenstillstand unterzeichnen. Petersburg beendete den Krieg mit dem Präliminarfrieden von San Stefano, als dessen Inspirator G. gilt. Als die russischen Friedensbedingungen im Frühjahr 1878 bekannt wurden, die namentlich von England und Österreich als Neuordnung der Balkanhalbinsel im russischen Sinne verstanden wurden, setzte der energische Widerstand der beiden Großmächte ein. Andrássy forderte die Berufung eines Kongresses, für den G. die deutsche Hauptstadt vorschlug. Im Berliner Frieden (Juni/Juli 1878) mußte Rußland auf seine Gewinne größtenteils wieder verzichten, konnte sich aber den Südteil Bessarabiens bis zum Donaudelta sichern, ein Gebiet, das für Rußland zurückzugewinnen G. zu einem seiner Hauptziele erklärt hatte.
Wenngleich G. die weiter gesteckte Bedingung des Friedens von San Stefano, die Errichtung eines großbulgarischen Vasallenstaates (San Stefanska Bŭlgarija), nicht erreichte, so war es ihm in den letzten Jahren seiner Amtstätigkeit doch gelungen, die Resultate des Krimkrieges weithin zu annullieren. Im April 1882 wurde der greise G. von seiner Funktion entbunden. An seine Stelle trat Nikolaj Karlovič von Giers.

Literatur

Klaczko, Julian: Deux chanceliers. Le Prince Gortchakoff et le Prince de Bismarck. Paris 1876.
Sbornik, izd. v pamjat’ 25-letija upravlenija ministerstva inostrannych del gos. kanclera knjazja A. M. Gorčakova, 1856-1881. S.-Peterburg 1881.
Tatiščev, Sergej Spiridonovič: Imperator Aleksandr II. Ego žizn’ i carstvovanie. 2 Bde. S.-Peterburg 1911(2).
Charles-Roux, François: Alexandre II, Gortchakoff et Napoléon III. Paris 1913.
Säger, Leo M. N.: Bismarck, Alexander II och Gortjakov. Stockholm 1950.
Semanov, Sergej Nikolaevič: A. M. Gorčakov - russkij diplomat XIX v. Moskva 1962.

Verfasser

Klaus Appel

Empfohlene Zitierweise: Klaus Appel, Gorčakov, Aleksandr Michajlovič Fürst, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 2. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1976, S. 74-76 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=896, abgerufen am: 29.04.2024