Atatürk, Kemal

GND: 118650793

Atatürk („Vater der Türken“) Kemal, bis 1934 Gazi Mustafa Kemal Pascha, Begründer der modernen Türkei, Präsident der Türkischen Republik 1923-1938, * Saloniki 1881, † Istanbul 10.11.1938, Sohn des Beamten Ali Riza und seiner Gattin Zübeyde.

Leben

1893 bis 1895 besuchte der junge Mustafa die Militärschule seiner Heimatstadt, wo er den Beinamen Kemal („der Vollkommene“) erhielt, anschließend das Militärgymnasium zu Monastir (Bitola), die Kriegsschule von Istanbul und 1902 die Kriegsakademie, die er 1905 im Hauptmannsrang verließ. Nach Verbüßung einer wegen politischer Betätigung verhängten Freiheitsstrafe wurde Mustafa Kemal zur 5. Armee nach Damaskus versetzt und im September 1907 zur 3. Armee nach Mazedonien. Hier wie dort war er an jungtürkischen Offizierskonspirationen gegen das Regime des Sultans Abdülhamid II. beteiligt, hatte jedoch an der Jungtürkischen Revolution (unter Enver Pascha und Talat Pascha) vom Juli 1908 keinen wesentlichen Anteil, wohl aber an der Niederschlagung der Gegenrevolution im April 1909. Nach weiteren Kommandos in Mazedonien und Albanien wurde Mustafa Kemal im September 1911 zum Großen Generalstab in Istanbul versetzt. Nach dem italienischen Angriff auf Tripolitanien ging er Ende 1911 über Ägypten an die Front in Nordafrika und kehrte nach Ausbruch des ersten Balkankrieges über Frankreich und Rumänien in die Heimat zurück, wo er maßgeblichen Anteil an der Behauptung der Stellungen von Bolayir im Nordosten der Dardanellen gegen die Bulgaren hatte (Ende 1912/Anfang 1913).
Am 27. Oktober 1913 als Militärattache nach Sofia versetzt, erlebte er den Eintritt der Türkei in den Ersten Weltkrieg auf diesem Posten. Seit Anfang Februar 1915 mit der Vorbereitung von Abwehrmaßnahmen gegen eine drohende britisch-französische feindliche Landung an den Dardanellen betraut, hatte Mustafa Kemal entscheidende Verdienste bei der siegreichen Behauptung der Dardanellen gegen die alliierte Landungsarmee (Kämpfe vom 25. April 1915 bis 9. Januar 1916). 1916 kämpfte Mustafa Kemal, seit 1. April im Rang eines Generalmajors, in Ostanatolien gegen die Russen. Seit Juli 1917 befehligte er an der Palästinafront die 7. Armee, begleitete um die Jahreswende 1917/18 den Thronfolger Mehmed (VI.) Vahdeddin auf einer Reise nach Deutschland und übernahm dann erneut seinen früheren Posten, den er bis Kriegsende innehatte.
Am 30. April 1919 zum Inspekteur der 9. Armee in Erzurum ernannt, landete er am 19. Mai im Schwarzmeerhafen Samsun. Von Amasya aus berief er die zu weiterem Widerstand entschlossenen Kräfte zu einem Kongreß nach Sivas ein, der ihn am 4. September zum Präsidenten wählte. Am 11. September folgte seine Wahl zum Präsidenten der „Vereinigung für die Verteidigung der Rechte Anatoliens und Rumeliens“, am 7. November seine Wahl zum Abgeordneten von Erzurum. Am 23. April 1920 eröffnete Mustafa Kemal in Ankara die Große Nationalversammlung, die ihn am folgenden Tag zu ihrem Präsidenten wählte.
Von der Istanbuler Regierung als Rebell zum Tode verurteilt, organisierte Mustafa Kemal von Ankara aus den nationalen Widerstand gegen die Durchführung des am 10. August 1920 von der Istanbuler Regierung Unterzeichneten Friedensvertrages von Sèvres. Nach Besiegung der Armenier im Herbst 1920 (Frieden von Gümrü vom 2./3.12.1920), der Räumung von Antalya durch die Italiener (Januar 1921) und der Verständigung zwischen Ankara und Frankreich konzentrierten sich die Kämpfe auf die griechisch-türkische Front in Westanatolien. Am 5. August 1921 ernannte die Große Nationalversammlung Mustafa Kemal zum Oberbefehlshaber, nach der Schlacht an der Sakarya (23. VIII. bis 13.09.1921) verlieh sie ihm am 19. September den Rang eines Marschalls und den Titel „Gazi“. Nach der Entscheidungsschlacht bei Dumlupinar am 26. bis 30. August 1922 kam es am 11. Oktober zum Waffenstillstand von Mudanya und am 24. Juli 1923 nach monatelangen Verhandlungen zum Abschluß des Friedensvertrages von Lausanne, der die Unabhängigkeit der Türkei besiegelte und die Griechen aus Kleinasien vertrieb.
Bereits am 1. November 1922 hatte die Große Nationalversammlung auf Mustafa Kemals Antrag die Abschaffung des Sultanats beschlossen; am 29. Oktober 1923 erfolgte die formelle Proklamation der Republik, zu deren Präsidenten er gewählt wurde (Wiederwahlen am 1. November 1927, 4. Mai 1931, 1. März 1935). Am 9. August 1923 begründete Mustafa Kemal die „Republikanische Volkspartei“, die bis zum 14. Mai 1950 Regierungspartei blieb.
Als allmächtiger Präsident der Republik und Chef der „Republikanischen Volkspartei“ erzwang er die völlige Ausschaltung des Islams aus dem öffentlichen Leben (1. März 1924 Aufhebung des Kalifats, 1925 Schließung der Medressen sowie Verbot aller Derwischorden, u. a.), ließ Gesetzbücher nach westeuropäischen Normen einführen (Bürgerliches Gesetzbuch vom 17.02.1926, Strafgesetzbuch vom 1.03.1926, Handelsgesetzbuch vom 29.05.1926) und bei gleichzeitigem Verbot des Unterrichts in der arabischen Schrift ein leicht modifiziertes Latein-Alphabet zur Schreibung des Türkischen einführen (3.11.1928). Der Förderung des Schulwesens und der Bekämpfung des Analphabetentums wandte Mustafa Kemal sein besonderes persönliches Interesse zu, ebenso der Modernisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft. Die angestrebte, aber zunächst bescheidene Industrialisierung wurde seit 1933 im Sinne eines „radikalen Etatismus“ vorangetrieben.
Außenpolitisch verzichtete Mustafa Kemal bewußt auf die Rückgewinnung aller ehemaligen osmanischen Gebiete außerhalb Anatoliens und Ostthrakiens, was den Ausgleich mit den übrigen Staaten Südosteuropas erleichterte.
Bei der Einführung von Familiennamen in der Türkei erhielt Mustafa Kemal am 24. November 1934 den Nachnamen Atatürk (Vater der Türken). Seine Gebeine wurden 1953 im Atatürk-Mausoleum in Ankara beigesetzt. Die von A. bestimmte politische Richtung der Türkei wird Kemalismus genannt.

Literatur

Mercanligil, Muharrem Doğdu: Atatürk ve devrim kitaplari kataloğu. Ankara 1953.
Benoist-Méchin, Jacques: Mustafa Kemal. Begründer der neuen Türkei. Düsseldorf, Köln 1955.
Kienitz, Friedrich Karl: Türkei. Anschluß an die moderne Wirtschaft unter Kemal Atatürk. Hamburg 1959.
Balfour, Lord John Patrick Douglas: Atatürk. The rebirth of a nation. London 1964.
Kinross, Lord: Atatürk. A biography of Mustafa Kemal, father of modern Turkey. New York 1965.

Empfohlene Zitierweise: Friedrich Karl Kienitz, Atatürk, Kemal, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 1. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1974, S. 108-110 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=489, abgerufen am: 27.07.2024