Károlyi, Mihály Graf

GND: 11856028X

Károlyi, Mihály Graf, ungarischer Staatsmann, * Budapest 4.03.1875, † Vence (Frankreich) 19.03.1955, aus einer der wohlhabendsten und einflußreichsten Magnatenfamilien Ungarns, Sohn von Graf Gyula K. und dessen Kusine Georgina K.

Leben

 Nach dem frühen Verlust seiner Eltern kam K. fünfzehnjährig unter den Einfluß seines Onkels, des Grafen Sándor K., eines tiefreligiösen konservativen Magnaten, der aktiv am Aufbau des ungarischen Genossenschaftswesens mitwirkte und sich sowohl gegen den Laissez-faire-Liberalismus als auch gegen die materialistischen und revolutionären Aspekte des marxistischen Sozialismus wandte. K. studierte Jura an der Universität Budapest, wobei er sich zunehmend zum Studium der Wirtschaft hingezogen fühlte, und übernahm 1906, nach dem Tod seines Onkels, die Leitung der Genossenschaftsbewegung. Auch wurde er 1905 mit oppositionellem Programm ins Parlament gewählt, übernahm jedoch keine aktive Rolle in der kommenden Koalitionsära. Er machte weite Reisen ins Ausland und war 1909 in Paris, als er den Vorsitz des Landesverbandes der Gutsbesitzer (Országos Magyar Gazdasági Egyesület) annahm. Während seiner Amtszeit versuchte K., die Basis des Verbandes etwas zu verbreitern, aber er trat 1911 wegen des Widerstandes der übrigen Vorstandsmitglieder gegen sein Drängen auf geheime Stimmabgabe bei den Wahlen zum Parlament zurück. 1910 wandte er sich als parteiloser Unabhängiger wieder der Politik zu, schloß sich aber 1912 der Justh-Fraktion auf dem linken Flügel der Unabhängigkeitspartei an, zum Teil als Reaktion gegen die Politik des Grafen István Tisza, der damals Parlamentspräsident und de facto Führer der regierenden „Partei der nationalen Arbeit“ war. Voll überzeugt von der Notwendigkeit, das allgemeine Wahlrecht einzuführen, half K., die verschiedenen oppositionellen Fraktionen auf dieser Basis zu einigen, und
 wurde 1913 von der „Vereinigten Unabhängigkeits- und Achtundvierzigerpartei' deren erstem Vorsitzenden gewählt. Er bot eine Alternative zur Außenpolitik Wiens, indem er die Freundschaft mit der Entente, besonders mit Frankreich, pflegte. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges traf K. in Frankreich, wo er kurz interniert wurde. Aber schon im Oktober 1914 kehrte er nach Ungarn zurück. Am 7. November 1914 heiratete K. die Gräfin Katinka Andrássy. Nach kurzer Dienstzeit als Husaren- offizier an der russischen Front entwickelte sich K. während des Krieges zum Führer einer Friedensbewegung und gründete im Sommer 1916 nach dem Bruch mit der Unabhängigkeitspartei eine neue Partei, die als „Károlyi-Partei“ bekannt wurde. Ihr Programm beinhaltete Forderungen nach Frieden, der Erweiterung bürgerlicher Freiheiten, Landreform und der Einführung allgemeiner Wahlen. Der Rücktritt des Grafen Tisza als ungarischer Ministerpräsident am 23. Mai 1917, die Schwäche der nachfolgenden ungarischen Regierungen, der Schock der russischen Revolutionen, wachsende Kriegsmüdigkeit und endlich der militärische Zusammenbruch der Mittelmächte im Spätsommer und Frühherbst 1918 kündigten K. als den erfahrensten Oppositionsführer und aussichtsreichsten Kandidaten für die Regierungsübernahme nach einem verlorenen Krieg an. Ende Oktober 1918, kurz vor dem Zusammenbruch, nahm K. den Vorsitz des Nationalrats an, der aus Mitgliedern seiner Partei, den Sozialdemokraten und einer Partei linksgerichteter Intellektueller, der „Bürgerlich-Radikalen Partei", bestand. In der Nacht zum 31. Oktober brach eine Revolution in Budapest aus, und K. bildete ein Kabinett aus den Parteien, die im Nationalrat vertreten waren. Am 16. November 1918 wurde die Republik ausgerufen, und K. wurde nach seinem Rücktritt als Kabinettschef am 11. Januar 1919 Präsident der Republik. Ministerpräsident wurde der vorherige Justizminister Dénes Berinkey. Das neue Regime hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die aus dem verlorenen Krieg herrührten sowie den militärischen Aktionen tschechoslowakischer und rumänischer Truppen, sozialer und wirtschaftlicher Unruhen und der wachsenden Agitation der ungarischen Kommunisten. K. bewies seine guten Absichten, indem er sein eigenes Land an die Bauern verteilte, konnte aber den schnellen Schwund seiner Autorität nicht aufhalten. Die Macht glitt allmählich in die Hände der Sozialisten, deren linker Flügel sich mit den Kommunisten verbündete, die am 21. März 1919 die ungarische Sowjetrepublik ausriefen. K. trat zurück und verließ Anfang Juli 1919 das Land. Er ging zuerst in die Tschechoslowakei, später nach Italien, Österreich, Jugoslawien, England und Frankreich. In der Emigration arbeitete K. daran, seine Politik zu verteidigen, vor allem in seinem Buch „Gegen eine ganze Welt“ (München 1924). In der Zwischenzeit machte ihm in Ungarn das gegenrevolutionäre Horthy-Regime in Abwesenheit den Prozeß, erklärte ihn zum Landesverräter und zog seinen Besitz ein. 1930 hielt K. eine Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten, und 1931 bereiste er mit seiner Frau die Sowjetunion. In den dreißiger Jahren wohnte das Ehepaar K. in Paris, wo es aktiv am internationalen Kampf gegen Faschismus und Nazismus teilnahm. Während dieser Zeit näherte sich K. ideologisch den Kommunisten, ohne je Parteimitglied zu werden. Die Kriegsjahre verbrachte er in England, wo seine Organisation „Für ein zu neues demokratisches Ungarn“ alle ungarischen Emigranten umfaßte, die auf eine demokratische Umgestaltung Ungarns nach dem Sieg der Alliierten hofften. Nach dem Krieg kehrte K. im Mai 1946 nach Ungarn zurück, wo er mit allen Ehren empfangen wurde, jedoch wurde ihm die Präsidentschaft der Republik nicht angeboten. Stattdessen v/urde er als Botschafter nach Frankreich entsandt. Als der ungarische Kommunistenführer László Rajk 1949 als Titoist verurteilt und hingerichtet wurde, war K. überzeugt, daß der Fall konstruiert war und reichte im selben Jahr seinen Rücktritt ein. Von da an lebte er in stiller Zurückgezogenheit in Vence (Frankreich), diesmal geschmäht vom stalinistischen Regime des Mátyás Rákosi.  In dieser Zeit beendete er seine Memoiren (Memoirs. Faith without Illusion, London 1956; New York 1957). Während der Entstalinisierungskampagne der frühen sechziger Jahre wurde er postum rehabilitiert, seine sterblichen Überreste wurden aus Frankreich überführt und am 18. März 1962 in Budapest mit großen Ehren beigesetzt. Eine Auswahl aus K.s Schriften der Jahre 1920-1946 erschien 1964 in Budapest.

Literatur

Hajdú, Tibor: Károlyi Mihály és az 1918/19-es forradalmak. In: Századok 97 (1963) 1092-1102.
(Károlyi, Catherine). A life together: the memoirs of Catherine Karolyi. London 1966.

Verfasser

Géza Vermes (GND: 118973576)

Empfohlene Zitierweise: Géza Vermes, Károlyi, Mihály Graf, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 2. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1976, S. 375-377 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1107, abgerufen am: 24.04.2024