Kálnoky, Gustav Siegmund Graf

GND: 119130491

Kalnoky, Gustav Siegmund Graf, Freiherr von Köröspatak, österreichisch-ungarischer Staatsmann, * Lettowitz (Letovice, Mähren) 29.12.1832, † Prödlitz (Brodek, Mähren) 13.02.1898, aus der mährischen Linie eines alten Szekler Adelsgeschlechtes.

Leben

 K. schied 1854 als Oberleutnant aus der k. u. k. Armee aus und trat in den diplomatischen Dienst über. Die wichtigsten Stationen seiner diplomatischen Laufbahn bis zu seiner Ernennung zum Außenminister am 20. November 1881 bildeten seine zehnjährige Tätigkeit als Legationssekretär, später als Botschaftsrat in London (1860 bis 1870) sowie seine Mission als Botschafter in St. Petersburg 1880-1881. Begründete London die für K. charakteristische gesamteuropäische Betrachtungsweise der österreichisch-ungarischen Außenpolitik, so Petersburg die in den ersten Jahren seiner Amtszeit gültige Überzeugung von der Opportunität einer Politik des Einvernehmens mit Rußland auf der Balkanhalbinsel, deren östlicher Teil K. als russische Interessensphäre anfänglich respektierte. Das in diesem Sinne stark von ihm beeinflußte und bereits von seinem Vorgänger Heinrich Freiherr von Haymerle abgeschlossene Dreikaiserbündnis (18.06.1881) hinderte K. freilich nicht daran, eine offensive Balkanpolitik zu betreiben. Das auf Initiative Bismarcks geschlossene Defensivbündnis mit Italien, der Dreibundvertrag (20.05.1882), brachte gegenüber Rußland eine größere Bewegungsfreiheit und förderte damit auch den Abschluß eines Defensivbündnisses Österreich-Ungarns mit Rumänien (am 30.10. 1883), dem Deutschland am gleichen Tag beitrat. Dem russischen Expansionsdrang war damit der Landweg in Richtung Istanbul versperrt. Die Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien und die damit ausgebrochene bulgarische Krise führte zu einer schweren Belastungsprobe der 1884 auf drei Jahre verlängerten Hl. Allianz, der sie nur kurze Zeit standgehalten hat. Ließ vorerst K. auf Bitten Rußlands Alexander von Battenberg als Fürsten von Bulgarien fallen, den er bereits durch direkte Intervention (am 19.11.1885) um die Früchte seines Sieges gegen die von ihm zum Krieg gegen Bulgarien ermunterten Serben gebracht hatte, so mußte K. unter dem Druck der ungarischen Regierung unter Kálmán Tisza dem angedrohten Einmarsch Rußlands in Bulgarien entgegentreten und sprach sich im Oktober 1886 öffentlich für die Selbständigkeit Bulgariens aus, was den Bruch mit dem Zarenreich bedeutete. In der dadurch heraufbeschworenen Krise mit Kriegsdrohungen auf beiden Seiten setzte sich K. erfolgreich gegen die von Tisza, dem Kronprinzen Rudolf und dem Militär vertretenen Kriegsbestrebungen durch, indem er durch Veröffentlichung des Zweibundvertragstextes im Februar 1888 allen Kriegstreibern seinen Defensivcharakter klar machte. Die auch durch die Krise Frankreichs (unter General Georges Boulanger) mit Deutschland aktuell gewordene Frage einer Definition des casus foederis durch den Zweibundpartner Deutschland vermochte K. von Bismarck nicht zu erreichen, der schon zu dieser Zeit im Falle eines Krieges Rußlands gegen Österreich-Ungarn den konzentrierten Angriff der deutschen Streitkräfte gegen Frankreich vorsah, ohne Einwendungen von seiten Wiens zu beachten. Die Gleichzeitigkeit der Krisen in Ost- und Westeuropa mit dem daraus resultierenden Druck Bismarcks auf K. führte bei der Verlängerung des Dreibundvertrages im Mai 1887 zu seiner Modifikation, die Italien ein Mitbestimmungsrecht bei der Veränderung des Status quo „in den Gebieten des Balkans oder der ottomanischen Küsten und Inseln in der Adria und im Ägäischen Meer“ einräumte. Die endgültige Hinwendung K.s zu einer mehr defensiven Außenpolitik besiegelte der Abschluß des „orientalischen Dreibundes“, der Mittelmeerentente zwischen Rom, London und Wien am 24. März 1887. Dieser von K. begrüßte Ersatz für das nicht mehr erneuerte Dreikaiserbündnis bekräftigte das traditionelle Ziel der Wiener Orientpolitik, die europäischen Grenzen des osmanischen Reiches schon im Hinblick auf Rußland aufrecht zu erhalten und damit den Status quo im Mittelmeer nicht zu verändern. Diesem Ziel folgte auch die Erneuerung der Bündnisse mit Italien, Rumänien und Serbien zu Beginn der 90er Jahre. Die unterbliebene Verlängerung der Mittelmeerentente, das Ausscheiden Bismarcks aus der Politik (1890) sowie die Verschlechterung der deutschrussischen Beziehungen ließen K. von sich aus eine Verständigung mit Rußland suchen. Im Frühjahr 1894 einigte er sich mit seinem russischen Kollegen Nikolaj Karlovic Giers auf gegenseitige Enthaltsamkeit beider Großmächte in Serbien und Bulgarien. Innenpolitische Ursachen führten K.s Sturz von seinem Amt herbei, der als geistig hochkonservativer Politiker bereits vor seinem Amtsantritt dafür plädiert hatte, das Außenministerium in den Rang einer von den Parlamenten und Regierungen in Wien und Budapest unabhängigen und nur dem Monarchen verantwortlichen Reichskanzlei zu erheben. Erfolgreich in seiner Einflußnahme auf die innere Politik Zisleithaniens spielte K. eine entscheidende Rolle beim Sturz des Ministerpräsidenten Grafen Taaffe, dessen Wahlrechtsreform er unbedingt ablehnte, weil er durch diese die privilegierte Stellung der Deutschen und Italiener im österreichischen Reichsrat bedroht sah. Die ungarische Regierung unter Dezső Bánffy erzwang K.s Rücktritt am 16. Mai 1895, da sie seine Balkanpolitik gegenüber Rußland als zu schwach kritisierte. Doch hat K.s Politik im Wege der Bündnisse mit Serbien und Rumänien die Stellung der Donaumonarchie auf dem Balkan auch wirtschaftlich gefestigt und zugleich eine offene, kriegerische Auseinandersetzung mit Rußland vermieden. Gerade in dieser letzten Frage wie auch in der Dreibundpolitik war K. stets dem Einfluß Bismarcks gefolgt, ohne freilich seine Balkanpolitik, der Bismarck schon prinzipiell seine Unterstützung verweigerte, von diesem abhängig zu machen.

Literatur

Friedjung, Heinrich: Graf Gustav v. Kálnoky. In: Ders.: Historische Aufsätze. Stuttgart, Berlin 1919, 327-361.
Langer, William L.: European alliances and alignments, 1871-1890. New York 1931.
Rutkowski, Ernst R.: Gustav Graf Kálnoky. Eine biographische Skizze. In: Mitt. österr. Staatsarch. 14 (1961) 330-343.
Engel-]anosi, Friedrich: Graf Kálnokys Rücktritt als Außenminister im Mai 1895. In: Ders.: Geschichte auf dem Ballhausplatz. Graz, Wien, Köln 1963, 233-259.
Diószegi, István: Die österreichisch-ungarische Monarchie in der internationalen Politik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In: Etudes historiques 1970, Budapest 1970, 363-395.
Verosta, Stephan: Theorie und Realität von Bündnissen. Wien 1971.
Bridge, F. R.: From Sadowa to Sarajevo. The foreign policy of Austria-Hungary, 1866-1914. London, Boston 1972.  

Verfasser

Gerhard Seewann (GND: 1069961280)

Empfohlene Zitierweise: Gerhard Seewann, Kálnoky, Gustav Siegmund Graf, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 2. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1976, S. 328-330 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1083, abgerufen am: 27.04.2024