Istóczy, Győző

GND: 118972820

Istóczy, Győző (Viktor), ungarischer Politiker, * Szentkereszt (Komitat Eisenburg) 7.11.1842, † Budapest 7.1. 1915, aus altem Mitteladel.

Leben

I. ging in Steinamanger zur Schule, dann studierte er 1860 in Wien und 1861 in Pest Rechtswissenschaften. Nach der Advokatenprüfung wurde er 1867 Vizenotar im Eisenburger Komitat und 1868 Richter. 1872 wurde er zum Stuhlrichter des Kreises Vasvár gewählt, dankte aber noch im selben Jahr ab, weil er als Kandidat der „Deák- partei“ im Wahlbezirk Rum ein Mandat erlangte. I. hieß die zum Ausgleich und zu dessen Sicherung führende Politik gut und hielt daran in staatsrechtlicher Hinsicht bis zuletzt fest. Er war der Meinung, die Zusammenarbeit mit Österreich sei für Ungarn in politischer, nationaler und wirtschaftlicher Hinsicht gleichermaßen notwendig, betonte aber, daß die ungarischen wirtschaftlichen Belange ein größeres Gewicht erhalten müßten. Nach der Fusion im März 1875 schloß sich I. demnach der „Liberalen Partei' Die sich anbahnende kapitalistische Entwicklung ließ neben dem zahlenmäßig schwachen und kapitalarmen ungarischen Bürgertum in erster Reihe die kapitalbesitzenden Bürger fremder Herkunft, Deutsche, vorwiegend aber Juden, hochkommen. Die steigende Unzufriedenheit der benachteiligten mittleren und kleineren Gutsbesitzer, der vom freien Wirtschaftswettbewerb ruinierten Handwerker und der ausge- beuteten Häusler zeigte sich in einem aus verschiedenen Beweggründen entstandenen Antikapitalismus. Neben persönlichen Kränkungen wurde I. durch diese wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen dazu veranlaßt, die Unzufriedenen nach ausländischem, vor allem deutschem, Beispiel für die antisemitischen Ideen zu gewinnen. I. hielt im Parlament 1875 seine erste antisemitische Rede, und von diesem Zeitpunkt an widmete er seine öffentliche Tätigkeit der Aufgabe, in Ungarn den Antisemitismus zum politischen Faktor zu gestalten. Nach anfänglicher Erfolglosigkeit schlossen sich ihm besonders Gutsbesitzer der verfallenden Gentry, kleine Angestellte und Intellektuelle an, vor allem aus den Reihen der „Unabhängigkeitspartei“. 1880 gründete I. die Monatsschrift „12 röpirat“ (12 Flugschriften); die der Verbreitung antisemitischer Ideen dienende Zeitschrift erschien bis 1892. I. pflegte ständigen Kontakt mit den Führern der antisemitischen Organisationen im Ausland. 1882 nahm er an der Spitze einer ungarischen Delegation am internationalen Antisemitenkongreß in Dresden teil, wobei er das Manifest an die Regierungen formulierte. Die antisemitische Agitation brachte rasch ihre Früchte: 1882 wurden Juden in Tiszaeszlár (Komitat Szabolcs) des Ritualmordes bezichtigt, und im nächsten Jahr brachen im ganzen Land Unruhen aus. Der Aufschwung des Antisemitismus ermöglichte am 6. Oktober 1883 die Gründung der „Antisemitenpartei“ (Antiszemitapárt), dessen erster Vorsitzender I. wurde. Das Programm der Partei reduzierte die wirklichen und fiktiven Mißstände auf die sog. „Judenfrage“ und setzte sich die Zurück - drängung und Unterdrückung des Judentums zum Ziel. Die antisemitisch-antikapitalistischen Forderungen wurden dabei erfolgsbedingt mit einer starken nationalen Demagogie verbunden. Bei den allgemeinen Wahlen im Sommer 1884 schreckten die Antisemiten auch vor der Anwendung von Gewalt nicht zurück. Schließlich setzten sie die Wahl von 17 Abgeordneten durch. Sowohl die regierende „Liberale Partei“ als auch die die Ratschläge Lajos Kossuths befolgende „Unabhängigkeitspartei“ lehnten den Antisemitismus als unvereinbar mit dem liberalen Gleichheitsprinzip ab und bekämpften dessen Apostel. Doch in den parlamentarischen Debatten zeigte sich sehr bald, daß die neue Partei über keinerlei konstruktive politische Vorstellungen verfügte. Auch innerhalb der Partei begann der Auflösungsprozeß. 1885 trat selbst I. aus der Partei aus, weil er in den Fragen der durch den Ausgleich bedingten gemeinsamen Angelegenheiten sich mit den Antisemiten, die aus den Reihen der „Unabhängigkeitspartei“ gekommen waren, entzweite. I. versuchte noch mehrere Male vergebens, eine einheitliche Antisemitenpartei ins Leben zu rufen. Bei den allgemeinen Wahlen 1887 wurden noch 11 Antisemiten gewählt, doch die Abgeordneten traten im Laufe des Reichstages zu anderen Parteien über oder blieben außerhalb der Parteien. I. selbst erlangte - als Parteiloser - 1892 zum letzten Male ein Mandat. In seinen letzten Jahren war er neben der Leitung seines Anwaltsbüros mit der Herausgabe der Monatsschrift „Jogi és közigazgatási útmutató“ (Wegweiser in Recht und Verwaltung) beschäftigt. Er übersetzte außerdem die über die Juden handelnden Schriften des Flavius und des Tacitus. Seine Erinnerungen erschienen 1906 unter dem Titel „A magyar antiszemita párt megsemmisítése és ennek következményei“ (Die Vernichtung der ungarischen Antisemitenpartei und deren Folgen) und 1911 unter dem Titel „Emlékiratfélék és egyebek“ (Auch eine Art Memoiren und andere Dinge). I. und seine gleichgesinnten Zeitgenossen schufen das ideologische und terminologische Rüstzeug der ungarischen Antisemiten, propagierten die Rassentheorie und entwickelten die soziale Demagogie. Der übersteigerte Antisemitismus im 20. Jh. mochte auf den Grundlagen aufgebaut worden sein, die I. zu schaffen mit geholfen hatte.

Literatur

Eötvös, Károly: A nagy per. 3 Bde. Budapest 1905.
Szatmári, Mór: Húsz esztendő parlamenti viharai. Budapest 1928.
Bosnyák, Zoltán: Istóczy Győző élete és küzdelmei. Budapest 1940.
Kubinszky, Judit: Az Antiszemita Párt megalakulása és részvétele az 1884-es választásokon. In: Legújabbkori Történeti Múzeum évkönyve 1963-1964. 5/6 (1966) 107-160.
Hegedűs, Sándor: A tiszaeszlári vérvád. Budapest 1966.
Kubinszky, Judit: Adalékok az 1883. évi antiszemita zavargásokhoz. In: Századok 102 (1968) 158-175.
Mérei, Gyula (Hrsg.): A magyar polgári pártok programjai, 1867-1918. Budapest 1971.

Verfasser

Judit Kubinszky (GND: 15861321X)

Empfohlene Zitierweise: Judit Kubinszky, Istóczy, Győző, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 2. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1976, S. 245-246 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1021, abgerufen am: 28.04.2024