Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Bethlen von Bethlen, István Graf
Bild: Wikimedia Commons
Wikidata: Q529130

In den Suchergebnissen blättern

Treffer 
 von 1526

Bethlen von Bethlen, István Graf

Bethlen von Bethlen, István (Stephan) Graf, ungarischer Staatsmann, * Gernyeszeg 8.10. 1874, † Sowjetunion 1947.

Leben

Nach Abschluß seiner juristischen und agrarwissenschaftlichen Studien wandte sich B. der Politik zu. Anfangs galt seine Tätigkeit vorwiegend Problemen Siebenbürgens, wo auch die großen Besitzungen seiner Familie lagen. 1901 wurde er im Wahlbezirk Neumarkt Land zum Abgeordneten gewählt, und er vertrat diesen Wahlbezirk ununterbrochen bis zur Selbstauflösung des Abgeordnetenhauses am 16. November 1918. Während dieser Jahre galt es für B. als Selbstverständlichkeit, daß die Führung des Stephansreiches bei den „historischen Klassen“, den Magnaten und dem Adel, am besten aufgehoben sei, und daß die Interessen von Staat und Nation denen des Großgrundbesitzes gleichgesetzt werden könnten. Mit dieser Überzeugung ließen sich bei B., wie bei nicht wenigen seiner Standesgenossen, westeuropäischer Lebensstil und Liberalität im Geistigen wohl vereinen.
Nach Ausrufung der „Ungarischen Räterepublik“ am 21. März 1919 flüchtete B. nach Wien. Er nahm dort führend Anteil an der Gründung eines „Anti-Bolschewistisches Comité“ genannten Organs der national-konservativen Emigration, das insbesondere die Bildung einer Gegenregierung betrieb. Anfang Juni erwirkten Beauftragte dieses Komitees die Konstituierung einer nationalen Regierung in dem von der französischen Armee besetzten Szegedin und veranlaßten die Betrauung des letzten Admirals der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine, Miklós Horthy, mit der Leitung des Kriegsministeriums.
Nach dem Sturz der Räterepublik am 31. Juli 1919 kehrte B. nach Ungarn zurück, und bald gehörte er zu den vertrauten Beratern Horthys, der am 1. März 1920 zum interimistischen Staatsoberhaupt, „Reichsverweser“, des Königreichs Ungarn gewählt wurde.
1919-1920 beteiligte sich B. als Experte für Fragen Siebenbürgens an der Arbeit der mit der Vorbereitung der Friedensverhandlungen befaßten Abteilung des Budapester Außenministeriums, und er war auch Mitglied der nach Paris entsandten ungarischen Friedensdelegation.
Einstweilen war B. seinen königstreuen Standesgenossen eng verbunden, zugleich stand er den in der ersten Nachkriegszeit mächtigen Geheimbünden nahe, die der Irredenta verschworen (und nebenher Träger des „weißen Terrors“) waren. Aber B. war offensichtlich der Ansicht, daß Ungarn nicht imstande gewesen wäre, den Siegermächten und den Nachfolgestaaten, die keinen Habsburger auf Ungarns Thron dulden wollten und jeden Gedanken an eine Revision der 1920 gezogenen neuen Grenzen von sich wiesen, die Stirn zu bieten. B. lehnte nicht die Ziele der Königspartei und der Irredentisten ab, er hielt sie bloß für unrealistisch, solange Ungarn nicht wieder erstarkt war. Die Politik B.s zielte vorerst auf Ruhe, Ordnung und Erlangung materieller Hilfe aus dem siegreichen Ausland.
Im März 1921 kam König Karl nach Ungarn, doch bewog ihn Horthy zur Rückkehr ins Exil. Unmittelbar danach, am 14. April, nahm B. die Ernennung zum Ministerpräsidenten durch Horthy an. Noch versicherte er den König seiner Treue, doch machte er auch, wie der Reichsverweser, geltend, Karls Rückkehr auf den Thron müßte die Besetzung Ungarns durch fremdes Militär heraufbeschwören.
Im Oktober 1921 versuchte der König, seinen ungarischen Thron im Handstreich zurückzugewinnen. Nun setzte Horthy Truppen gegen ihn ein. Der König wurde, diesmal endgültig, gezwungen, ins Exil zu gehen. Im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit seiner Standesgenossen, die Horthy den Bruch seines Treueides vorwarfen, stellte sich B. auf die Seite des Reichsverwesers, und einen Monat später brachte B. selbst im Budapester Reichstag ein Gesetz über den Thronverlust des Hauses Habsburg ein.
Um diese Zeit setzte er den bewaffneten Abenteuern der Geheimbündler ein Ende. Für den Spätsommer 1921 war die Abtretung Westungarns, des heutigen Burgenlandes, an Österreich anberaumt. Geheimbündler und Offiziersgruppen versuchten dies mit Gewalt zu verhindern. B. versicherte sie seiner Sympathie, sorgte aber - u. a. durch Unterbindung ihres Nachschubs - für das Scheitern des Unternehmens. Gleichzeitig berief er sich in Verhandlungen mit den Siegermächten auf den Druck, den die Freischaren und die ungarische öffentliche Meinung auf seine Regierung ausübten, und auf diese Weise konnte er im zentralen Teil des Österreich zugedachten Gebietes, in Ödenburg (Sopron) und Umgebung, eine Volksabstimmung durchsetzen, die - im Dezember 1921 - zu Gunsten Ungarns ausfiel.
Infolge des „weißen Terrors“, der Ausschreitungen, Bombenanschläge, Morde an politischen Gegnern und an Juden waren schwere Schatten auf das Ungarnbild des Auslandes gefallen. Nach B.s Regierungsantritt wurden die Umtriebe der Rechtsextremisten allmählich eingedämmt, nach und nach wurde die Rechtssicherheit wiederhergestellt, und B. setzte auch publizistische Mittel wirksam zur Gewinnung des Vertrauens des Auslandes ein.
1922 schuf B. ein neues Wahlrecht, das den 1918 erstmals eingeführten geheimen Abstimmungsmodus auf die Städte beschränkte und sonst die offene Stimmabgabe vorschrieb, was außerhalb der Städte während der ganzen Zwischenkriegszeit die Manipulierung der Parlamentswahlen durch die Regierung ermöglichte.
Auch in der Innenpolitik trachtete B. nach einer Bereinigung der Fronten in seinem Sinne. Nicht nur die kommunistische Partei war verboten und geächtet, auch die Sozialdemokratie war Verfolgungen ausgesetzt gewesen. Als Realpolitiker war B. bereit, sich mit der Existenz der großen Partei der Industriearbeiterschaft abzufinden, ja er sah in der sozialdemokratischen Partei auch einen Damm gegen das neuerliche Vordringen kommunistischer Tendenzen und nebenbei ein demokratisches Alibi gegenüber dem Ausland. So schloß er im Dezember 1921 ein geheimgehaltenes Abkommen mit den Sozialdemokraten, in dem der Partei die Betätigung in den Städten und unter den Industriearbeitern auch in der Provinz zugesichert wurde, jedoch unter der Auflage, daß die Partei sich jeder Tätigkeit unter den Bauern auf dem Lande und den Staatsangestellten enthalte.
Auf anderem Wege setzte B. die Neutralisierung der (alten) „Kleinlandwirtepartei“ durch, die in der Nationalversammlung die relative Mehrheit innehatte und B.s restaurativem System gefährlich hätte werden können, da sie nicht frei von boden-reformerischen Strömungen war. Im Februar 1922 trat B. mit seiner Gefolgschaft selber in die Partei ein, dann verschmolz er sie mit anderen auf die neue Ordnung unter Horthy eingeschworenen politischen Gruppen und schuf so die „Einigkeitspartei“, auf die sich B.s Regierung von da an fast ein Jahrzehnt hindurch stützen konnte.
Im September 1922 wurden B.s Bemühungen um die Wiedergewinnung des Vertrauens der Welt vom ersten sichtbaren Triumph gekrönt: Ungarn wurde in den Völkerbund aufgenommen. 1923 erhielt die Regierung B. in Anerkennung ihrer konsolidatorischen Erfolge eine große Auslandsanleihe, die B. in den Stand versetzte, die galoppierende Nachkriegsinflation aufzuhalten und 1924-1926 ein wirtschaftliches Sanierungsprogramm zu verwirklichen. Die Industrialisierung machte nunmehr erhebliche Fortschritte, die Wirtschaftslage besserte sich, auf dem Gebiet des Unterrichtswesens wurden ansehnliche, auf dem der Sozial- und Krankenversicherung kleinere Reformen in Angriff genommen.
1925 verfielen einige führende Persönlichkeiten des Horthy-Regimes in patriotischer Absicht auf den abenteuerlichen Plan, mit gefälschten Francnoten, die in der kartographischen Anstalt der ungarischen Armee hergestellt worden waren, die Wirtschaftsmacht Frankreichs zu erschüttern und finanzielle Mittel für Unternehmungen gegen die Kleine Entente zu beschaffen; die Urheber der Aktion erblickten in Frankreich das Haupthindernis einer Revision des Friedens Vertrags von 1920. Als die Sache 1926 aufflog und einige der Hauptakteure in Budapest vor Gericht gestellt und abgeurteilt werden mußten, überstand B. den ungeheuerlichen Skandal ohne Schaden. Obwohl Prozeßzeugen seine Mitwisserschaft behaupteten, konnte ihm nicht widerlegt werden, er habe von der Affäre erst nachträglich erfahren.
Das Bemühen, Ungarn auch in den Augen der Siegermächte eine geachtete Position zu verschaffen, hinderte B. nicht daran, den Irredentismus im Lande unter der Hand zu fördern. Er dürfte die radikale Irredenta aus der taktischen Erwägung heraus unterstützt haben, den Siegermächten eine bescheidene Teilrevision des Friedensvertrages von 1920 als das für sie kleinere Übel empfehlen zu können. Weniger eine ideologische Wahlverwandtschaft als die revisionsfreundliche Haltung der faschistischen Regierung führte zu einer fortschreitenden Annäherung zwischen Rom und Budapest. Im April 1927 kam ein italienisch-ungarischer Freundschaftsvertrag zustande. Nach zehn Regierungsjahren hatte sich B.s Regime abgenutzt. Innerhalb des Regierungslagers hatten sich Gruppen gebildet, die die „Grafenclique“ von den Hebeln der Macht zu drängen versuchten. Im Gefolge der Wirtschaftskrise geriet die Regierung B. in Schwierigkeiten, die mit taktischem Geschick allein nicht mehr zu meistern waren. Angesichts der Kritik und der Angriffe aus dem eigenen Lager erklärte B. nach der Banksperre des Sommers 1931, am 19. August, seinen Rücktritt.
Die Verwilderung der politischen Landschaft Mitteleuropas nach Hitlers Machtergreifung im Deutschen Reich bewog B. zum parteipolitischen Stellungswechsel. Während sich immer mehr Politiker des Regierungslagers der extremen Rechten näherten, bezog B. einen neuen Standort in der Nachbarschaft der liberalen Mitte. 1935 trat B. aus der Regierungspartei aus, und er übte sein Abgeordnetenmandat bis 1939, da er von Horthy zum Oberhausmitglied auf Lebenszeit ernannt wurde, als Parteiloser aus.
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zog Horthy, der an einen Endsieg Hitlers nicht zu glauben vermochte, B. wieder enger an sich. Dieser förderte alle Versuche des Reichsverwesers, Fäden zu den Westmächten zu knüpfen. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn ging B., der auf den schwarzen Listen der Gestapo stand, in den Untergrund. Nach dem Scheitern des Absprungversuchs Horthys im Oktober 1944 entzog sich B. weiterhin erfolgreich einer Verhaftung durch die Gestapo und ihre ungarischen Helfer. Er erlebte wohlbehalten die Eroberung Ungarns durch die Rote Armee, wurde aber - vermutlich Anfang 1945 - von Sowjetorganen in Gewahrsam genommen und in die Sowjetunion gebracht, wo er als wichtige lebende Geschichtsquelle in Ehrenhaft gehalten worden und 1947 unter nicht näher bekannten Umständen verstorben sein soll.
Als Ministerpräsident erlangte B. beherrschenden Einfluß im kleingewordenen neuen Ungarn, nach Ansicht seiner Feinde dank seiner taktischen Gerissenheit und machiavellistischen Skrupellosigkeit, nach Meinung seiner Anhänger dank seiner staatsmännischen Weitsicht und seinen hervorragenden diplomatischen Fähigkeiten. Während seiner über zehnjährigen Ministerpräsidentschaft formierte sich der ungarische Staat der Zwischenkriegszeit, und B.s Einfluß wirkte auch nach seinem Rücktritt weiter. Es war nicht zuletzt B.s Verdienst, wenn das halbliberale System mit seinem Mehrparteienparlament, seiner bürgerlichen und sozialdemokratischen Opposition, den weitgehend unabhängigen Gewerkschaften und einer bemerkenswert freimütigen Oppositionspresse inmitten einer nationalsozialistisch gewordenen Umwelt bis an den Tag, an dem Hitlers Wehrmacht Ungarn besetzte (19.03.1944), erhalten blieb.

Literatur

Bethlen István beszédei és írásai. 2 Bde. Budapest 1933.
Bethlen István angliai előadásai. Budapest 1933.
Macartney, Carlile Aylmer: October Fifteenth. 2 Bde. Edinburgh 1961.
Bethlen István titkos iratai. Sajtó alá rend. és bev. Szinai Miklós és Szűcs László. Budapest 1972.

Verfasser

Denis Silagi (GND: 1032871083)

GND: 119340925

Weiterführende Information (Deutsche Biographie): https://www.deutsche-biographie.de/pnd119340925.html


RDF: RDF

Vorlage (GIF-Bild):  Bild1   Bild2   Bild3   Bild4   Bild5   

Empfohlene Zitierweise: Denis Silagi, Bethlen von Bethlen, István Graf, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 1. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1974, S. 194-198 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=568, abgerufen am: (Abrufdatum)

Druckerfreundliche Anzeige: Druckerfreundlich

Treffer 
 von 1526
Ok, verstanden

Website nutzt Cookies, um bestmögliche Funktionalität bieten zu können. Mehr Infos