Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Rieger, František Ladislav Freiherr
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Rieger, František Ladislav Freiherr

Rieger, František Ladislav (ab 1897) Freiherr, tschechischer Politiker, * Semily (Kreis Jičin) 10.12.1818, † Prag 03.03.1903.

Leben

 Aus einer wohlhabenden bürgerlichen Mittelstandsfamilie teilweise deutscher Abstammung gebürtig, brach R. 1848 seine durch das Studium der Rechtswissenschaften vorbereitete Beamtenlaufbahn ab und ging als einer der eifrigsten Vorkämpfer der Ideen František Palackýs ganz im politischen Leben auf. Als Mitglied der am 29. Mai 1848 gebildeten Prager provisorischen Regierung unter dem Grafen Leo Thun gehörte R. neben Palacký (diesem durch die 1853 erfolgte Heirat seiner Tochter mit dem Sohn Palackýs auch verwandtschaftlich verbunden) zu den bedeutendsten Führern der nationalen, ständischliberalen, großbürgerlichen Gruppe, die nach dem Zusammenbruch des Prager Pfingstaufstandes im Juni 1848 die tschechische Politik im Wiener, später Kremsierer Reichstag repräsentierte. Von fünf Wahlkreisen gewählt zog R. im Reichstag ein, in dem er zusammen mit Palacký auch als einer der Hauptsprecher der slawischen Völker der Monarchie für deren föderalistische Struktur und innerhalb dieser für eine volle Autonomie der böhmischen Länder eintrat, die vollkommene Unabhängigkeit des Gesamtstaates gegenüber Deutschland forderte und schließlich durch Unterstützung der Regierung auch bei der Unterdrückung der ungarischen Revolution von ihr Zugeständnisse bei seinen nationalen Forderungen zu erreichen suchte. Nur an diesen interessiert verfolgte R. im Reichstag in sozialen Fragen (Bauernbefreiung) einen mehr konservativen und antidemokratischen Kurs, der sich erst nach Antritt der Regierung Schwarzenberg wesentlich liberaler gestaltete. R. war Mitglied des Verfassungsausschusses sowie des am 3. August 1848 gebildeten Unterausschusses, dem die Abfassung der Grundrechte oblag. Als ihr Sprecher war R. Hauptautor des ersten Grundrechtsentwurfes, der das Prinzip der Volkssouveränität verkündete, die Privilegien des Adels abschaffen sowie den Status der katholischen Kirche im Sinne der Freiheit der Religion einschränken wollte. Infolge des heftigen Widerspruchs von seiten der Regierung Schwarzenberg blieb dieser Entwurf im Plenum, dem er - von R. vorgetragen - im Januar 1849 zur zweiten Lesung vorlag, unverabschiedet und hat auch wesentlich zur Auflösung des Reichstages beigetragen. R.s berühmtester Beitrag, die Fassung des Paragraphen 21, war das erste Dokument in der Geschichte der Habsburgermonarchie, das die Gleichberechtigung aller ihrer Nationalitäten und Völker sowie ihrer Sprachen verkündete und das in geringfügiger Abänderung die ersten beiden Teile des Artikels XIX des österreichischen Staatsgrundgesetzes Nr. 142 vom Jahre 1867 bildete. Nach der Auflösung des Reichstages ging R. nach Frankreich, das er für die nationalen Rechte der Tschechen zu interessieren suchte, womit er als einer der ersten eine antihabsburgische Auslandspropaganda als zukünftiges Leitmotiv der tschechischen Politik begründete. In der konstitutionellen Ära 1860/61 schloß R. als faktischer Führer der tschechischen Nationalpartei ein Bündnis mit dem böhmischen Adel unter der Führung des Grafen Heinrich Jaroslav Clam-Martinic, das als feudal-bürgerliche, später unter dem Namen „Alttschechen“ bekannte Koalition die Wiederherstellung des böhmischen Staatsrechtes anstrebte. Doch bildete die Mitarbeit der Tschechen am Wiener Reichsrat nur eine kurze Episode; an ihrem 1863 erfolgten Auszug aus diesem aus Protest gegen den deutschzentralistischen Kurs Schmerlings hatte R. maßgeblichen Anteil. Gegen den Ausgleich von 1867 demonstrierten die Tschechen unter der Führung Palackýs und R.s durch ihre aktive Teilnahme am Moskauer Slawenkongreß, der die panslawistische Richtung innerhalb der Monarchie erheblich stärkte. Die von R. am 22. August 1868 formulierte „Böhmische Deklaration“ von 81 tschechischen Landtagsabgeordneten erklärte die böhmische Staatsrechtsdoktrin erstmals zu einem gesamtnationalen Programm der tschechischen Politik; in ihr verlangten die Tschechen gemäß der historischen Ebenbürtigkeit von Wenzel- und Stephanskrone und in Ablehnung des Ausgleichs mit Ungarn wie der Zuständigkeit des Wiener Reichsrates für die böhmischen Länder für diese eine Stellung im Reichsverband, die in Form eines Vertrages mit dem Herrscherhaus derjenigen Ungarns entsprechen sollte, mit den Tschechen als herrschende Staatsnation. Der sodann unter dem Kabinett Hohenwart 1871 unternommene Ausgleichsversuch scheiterte am Widerstand der Magyaren (unter Julius Andrássy) und der deutschliberalen Zentralisten. Dieser von seiten der Tschechen von Graf Clam-Martinic und R. ausgehandelte Ausgleich sah eine Autonomie der böhmischen Länder innerhalb Zisleithaniens ähnlich der 1867 mit Ungarn gegenüber Österreich vereinbarten vor, festgelegt in den „Fundamentalartikeln“ und in einem vom böhmischen und mährischen Landtag einstimmig angenommenen Nationalitätengesetz, das die Gleichberechtigung der deutschen und tschechischen Nationalität und Sprache festlegte, den böhmischen Landtag in zwei nationale Kurien unterteilte, denen das Budgetrecht in kulturellen Angelegenheiten gegeben wurde, und schließlich die Neuorganisation des Landes in sprachlich einheitliche Verwaltungsgebiete unter Schutz von Minderheiten ab 20% der Bevölkerung vorsah. Der 1879 erfolgte Eintritt der Tschechen in den Wiener Reichsrat mit R. an der Spitze ihrer Fraktion bedeutete eine Niederlage des deutschen Liberalismus und eine Unterstützung des langjährigen Kabinetts Taaffe und war von mehreren Konzessionen auf nationalsprachlichem Gebiet in Schule und Verwaltung (u. a. Teilung der Prager Universität) begleitet. 1890 setzte R. seine ganze Popularität für einen nochmaligen Ausgleichsversuch mit einem Sprachenkompromiß in Exekutive, Legislative (nationale Kurien im Landtag) und Schulwesen (nationale Volksschulen bei einer Mindestanzahl von 40 Kindern) ein. Die nicht zu den Verhandlungen herangezogenen Jungtschechen, deren politischer Aufstieg den raschen sozialen Wandel in Böhmen und den damit parallel gehenden Machtverlust der großbürgerlichen Alttschechen verdeutlichten, attackierten R.s Politik als undemokratisch. Das Scheitern des Ausgleichs in der von ihm vertretenen Form brachte R. das Ende seiner politischen Karriere, die Reichsratswahl 1891 entzog ihm sein letztes Mandat. Bei seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Leben bekannte er, daß er außerhalb Österreichs für seine Nation keine Existenzmöglichkeit mehr sehe und markierte auf diese Weise seine bereits gänzlich isolierte Stellung im Leben seiner Nation, das er über 40 Jahre politisch und kulturell entscheidend mitgestaltet hatte, auch als Mitbegründer der ersten tschechischen Nationalenzyklopädie (Slovník naučny, 1858) und der Prager Zeitung „Národní Listy“ (1861).

Literatur

Kalousek, Josef (Hrsg.): Řeči Dra Fr. L. Riegra (1848-1867). 4 Bde. Praha 1883/88.
Jahn, Jiliji: František Ladislav Rieger. Praha 1890.
Traub, Hugo: František Ladislav Rieger. Praha 1923.
Ders. (Hrsg.): Řeči Dra F. L. Riegra. Bd 1 (1868-1878). Praha 1923.
Heidler, Ján (Hrsg.): Příspěvky k listáři Dra F. L. Riegra. 2 Bde. Praha 1924/26.
Pech, Stanley Z.: František Ladislav Rieger: the road from liberalism to conservatism. In: Central European Affairs 17 (1957) 3-23.
Ders.: František Ladislav Rieger: some critical observations. In: Canadian Slavonic Papers 2 (1957) 57-69.  

Verfasser

Gerhard Seewann (GND: 1069961280)

GND: 119006782

Weiterführende Information (Deutsche Biographie): https://www.deutsche-biographie.de/pnd119006782.html


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Empfohlene Zitierweise: Gerhard Seewann, Rieger, František Ladislav Freiherr, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 48-50 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1601, abgerufen am: (Abrufdatum)

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